Die Schutzimpfung ist eine der größten Errungenschaften der Medizin, eine Erfolgsgeschichte der Menschheit und gelebte Solidarität. Doch paradoxerweise ist der Erfolg des Impfens gleichzeitig dessen größtes Problem.
Auf der ganzen Welt arbeiten Forscherinnen und Forscher unter Hochdruck an wirksamen Impfstoffen gegen das Coronavirus. Die Hoffnung ist groß, die Pandemie mit einem flächendeckenden Impfschutz der Bevölkerung beenden zu können. Experten sind zuversichtlich und die ersten vielversprechenden Kandidaten könnten schon bald auf den Markt kommen. Das Thema Impfen erhält seit der Corona-Krise so viel mediale Aufmerksamkeit wie lange nicht mehr.
Zu Recht, denn die Impfung ist noch immer der wirksamste und sicherste Schutz vor Infektionskrankheiten, den die moderne Medizin hervorgebracht hat. Doch ihre größten Erfolge sind unsichtbar geworden. Weil die Gefahren vieler ansteckender Krankheiten gebannt werden konnten und ihren Schrecken verloren haben, nehmen wir nicht wahr, was uns durch das Impfen erspart bleibt. Viele Menschen meinen dann, Impfungen seien unnötig, weil die Krankheiten, vor denen sie schützen sollen, kaum noch auftreten. So kann ausgerechnet der Erfolg des Impfens zu einer allgemeinen Impf-Müdigkeit und Impf-Skepsis in der Gesellschaft beitragen.
Kurz vor der Zulassung eines Corona-Impfstoffes tun wir deshalb gut daran, uns die Erfolgsgeschichte des Impfens erneut ins Bewusstsein zu rufen.
Meilensteine einer Erfolgsgeschichte
Der wohl größte Triumph der Impfgeschichte ist die weltweite Ausrottung der Pocken. Diese seit dem Altertum bekannte und gefürchtete Krankheit hat im Laufe der Jahrtausende unzählige Menschenleben gefordert und ganze Völker dahingerafft. Die Pockenkrankheit (auch Blattern oder Variola genannt) ist eine Virusinfektion, die durch Tröpfchen übertragen wird und hohes Fieber und einen Ausschlag mit Pusteln im Gesicht, an Armen und Beinen verursacht. Sie gilt durch ihre Letalität und Infektiosität als eine der tödlichsten Krankheiten der Menschheit – Überlebende waren häufig durch die Pockennarben entstellt.
Schon früh hatten Menschen erkannt, dass man nach überstandener Pockenkrankheit immun gegen weitere Ansteckungen war. Erste Versuche, Kleinkinder durch eine absichtliche Ansteckung zu immunisieren, wurden in China bereits vor 3000 Jahren unternommen. Im Jahr 1796 gelang es erstmals, eine sogenannte „Vakzine“ gegen die Pocken herzustellen und anzuwenden: Der englische Arzt Edward Jenner hatte beobachtet, dass Bäuerinnen, die sich mit den relativ harmlosen Kuhpocken angesteckt haben, immun gegen die verwandte aber ungleich gefährlichere Pockenerkrankung waren. Zur Überprüfung seiner These infizierte er einen achtjährigen Jungen mit Sekret aus den Pocken von erkrankten Kühen, und später, nach Abklingen der Krankheit, mit den echten Pocken. Der Junge zeigte wie erwartet keine Symptome der Pocken. Die Impfung nannte Jenner „Vaccination“ (aus dem Lateinischen für: „von der Kuh stammend“) – sie setzte sich als gezielte medizinische Maßnahme schnell in ganz Europa durch.
Die einzige menschliche Krankheit, die vollends besiegt wurde
Die letzte Person, die an den Pocken starb, war die Britin Janet Parker. Die medizinische Fotografin hatte sich aller Wahrscheinlichkeit nach in einem Pocken-Labor in Birmingham angesteckt. Das war im Jahre 1978. Im Jahre 1980 erklärte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Pocken offiziell für ausgerottet. Für die vollständige Befreiung der Welt von den Pocken war eine beispiellose weltweite Impfkampagne unter der Leitung der WHO nötig – es ist die wohl größte Leistung der Medizin. Bis heute ist die Pockenkrankheit die einzige menschliche Krankheit, die vollends besiegt wurde.
Einer der neueren Meilensteine der Impfgeschichte war die Entwicklung der Schluckimpfung gegen Polio, auch Kinderlähmung genannt, in den 50er Jahren. Aufgrund von hohen Impfraten konnte die vorwiegend im Kindesalter auftretende Infektionskrankheit bis heute fast ausgerottet werden. Laut WHO konnten die weltweiten Fälle von 350.000 im Jahre 1988 auf 22 im Jahre 2017 reduziert werden. Lediglich in drei Ländern der Welt (Pakistan, Afghanistan und Nigeria) kommt es noch regelmäßig zu Polio-Ausbrüchen. Die Gefahr bleibt jedoch bestehen, wenn nicht in allen Ländern der Welt eine hohe Durchimpfungsrate beibehalten wird.
Die Lügen der Impfgegner
Es grassieren noch immer viele Mythen und Desinformationen rund um das Thema Impfen – manche basieren auf Unwissenheit oder mangelnder Aufklärung, andere werden gezielt gestreut.
Einer der hartnäckigsten Impf-Mythen behauptet, die Masern-Mumps-Röteln-Impfung könne bei Kindern Autismus auslösen. Diese Behauptung geht auf eine einzige Fallbericht-Studie des Briten Andrew Wakefield von 1998 zurück. Diese sehr kleinen Studie mit einer Teilnehmerzahl von gerade mal zwölf Kindern löste einen regelrechten Medizin-Skandal aus: Erst kam heraus, dass Wakefield verheimlicht hatte, selbst das Patent an einem Alternativ-Impfstoff zu halten, dann, dass er Geld von Anwälten erhalten hatte, die eine Schadensersatzklage gegen Impfstoffhersteller geplant hatten. Die Studie wurde wegen wissenschaftlichen Schwächen zurückgezogen, Wakefield verlor seine Zulassung wegen unethischer Forschungsmethoden und zahlreiche nachfolgende großangelegte Studien konnten keinerlei Zusammenhang zwischen Impfungen und Autismus finden. Auch wenn sie längst wiederlegt wurde, geistert Wakefields Studie noch immer durchs Internet und wird immer wieder von Impf-Gegnern ins Feld geführt.
Immer wieder heißt es, das Impfen sei bloße Geldmacherei der Pharmaindustrie – ein Milliardengeschäft, bei dem eigentlich unnötige Impfungen aus reiner Profitgier auf den Markt gebracht werden. Dabei ist der Markt für Schutzimpfungen im Vergleich zu Arzneimitteln ein kleiner Nischenmarkt – in Deutschland entfielen im Jahr 2014 von den 194 Milliarden Euro, die die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) ausgegeben hat, gerade einmal 0,65 Prozent auf Impfstoffe. Weil die Herstellung von Impfstoffen meist komplexer und teurer ist, als die von Medikamenten, und weil Impfungen im Gegensatz von Medikamenten für chronisch Kranke nur wenige Male verabreicht werden, ist das Geschäft für privatwirtschaftliche Unternehmen weniger attraktiv.
Häufig werden außerdem die Nebenwirkungen des Impfens überschätzt oder übertrieben – Gerüchte und Anekdoten über Impfschäden, oder, wie im Fall Wakefield, Kampagnen von Impfgegnern, beunruhigen viele Eltern. Leichte Nebenwirkungen wie Schwellungen, Rötungen oder leichtes Fieber kommen gelegentlich vor, sind jedoch kein Grund zur Beunruhigung. Zu Impfschäden kommt es dagegen extrem selten: In Deutschland sind es bei 45 Millionen Impfdosen lediglich 34 anerkannte Fälle. Dagegen stirbt durchschnittlich eines von 1.000 an den Masern erkrankten Kindern. Der medizinische Nutzen der Masernimpfung steht also außer Frage: Sie rettet jedes Jahr schätzungsweise drei Millionen Kindern das Leben.
Impfen ist gelebte Solidarität
Mit einer Impfung immunisiert man nicht nur sich selbst – man schützt die Gesellschaft und die am meisten Gefährdeten gleich mit. Grund dafür ist der sogenannte Herdenschutz: Bei einer ausreichend hohen Durchimpfungsrate der Bevölkerung (bei Masern sind es 95 Prozent; bei Sars-CoV-2 wird von 50 bis 67 Prozent ausgegangen) kann sich eine Krankheit nicht mehr ausbreiten. Die hohe Impfrate wirkt dann wie ein kollektiver Schutzschirm und schützt auch Menschen, die sich (noch) nicht impfen können: Neugeborene oder Menschen mit chronischen Krankheiten.
Gebiete, in denen die Masern-Impfquote niedrig ist, sind besonders gefährlich für Säuglinge oder immunkranke Menschen, weil hier der Schutzschirm nicht mehr greift. Impfen ist deshalb ein Akt der Solidarität, von dem sogar die Impfgegner als Trittbrettfahrer profitieren.
Corona-Krise als Chance für den Impfschutz
Während man nun weltweit darauf hofft, dass uns ein Corona-Impfstoff bald schrittweise eine Rückkehr zur Normalität erlaubt, verbreiten Impfgegner und Coronaleugner bereits ihre Fake-News in den sozialen Medien und streuen Gerüchte von einer angeblich bevorstehenden „Zwangsimpfung“. Solche Desinformationen sind in Zeiten der Pandemie besonders gefährlich und können sich negativ auf die Impfbereitschaft der Bevölkerung auswirken. Eine solche Unvernunft können wir uns nicht leisten.
Dabei könnte die Corona-Krise auch eine Chance für den weltweiten Impfschutz sein: Eine erfolgreiche Impfkampagne gegen das Coronavirus könnte uns die Wichtigkeit der Impfung erneut ins Bewusstsein rufen und so womöglich auch dazu beitragen, die Impfquoten anderer Erkrankungen zu erhöhen.