Jedes Jahr ertrinken Tausende Flüchtlinge bei dem Versuch, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Die EU-Staaten schauen dem Massensterben tatenlos zu und stellen damit einen zivilisatorischen Grundstandard infrage.
Wenn Menschen ertrinken, geschieht das meistens leise und unbemerkt. Anders als wir es aus Filmen kennen, strampeln sie weder wild um sich noch können sie um Hilfe rufen. Beim panischen Versuch, sich luftringend über der Oberfläche zu halten, tauchen sie immer wieder unter, wobei ihnen Wasser in die Lungen strömt. Zu schreien oder auf anderem Wege auf sich aufmerksam zu machen, ist in dieser Situation unmöglich. Die letzten verzweifelten Atemzüge halten keinen Sauerstoff mehr bereit. Schließlich endet der qualvolle Überlebenskampf im sicheren Tod.
Auf diese Art sind laut einem Bericht des UNHCR im vergangenen Jahr mindestens 2.275 Menschen gestorben, die vor Krieg, Armut und Vertreibung über das Meer nach Europa fliehen wollten und in Seenot geraten sind. Das Mittelmeer ist damit eine der tödlichsten Fluchtrouten der Welt, ein anonymes Massengrab, das zehntausende Menschenleben verschluckt hat. Schätzungen gehen davon aus, dass es seit dem Jahr 2000 über 30.000 gewesen sind. Wie hoch die Zahl tatsächlich ist, kann niemand genau bestimmen, denn nur in seltenen Fällen werden Nachforschungen über die Anzahl und Identität der Toten angestrengt.
Europa schaut dem Massensterben tatenlos zu
Sicher ist, dass noch mehr Flüchtlinge gestorben wären, wenn es in der Vergangenheit keine Seenotrettung gegeben hätte. Allein die italienische Marineoperation Mare Nostrum rettete innerhalb eines Jahres 140.000 Menschen auf dem Seeweg zwischen Libyen und Italien. Doch die Mission wurde Ende 2014 wieder eingestellt, weil sich die Europäische Union nicht an den monatlichen Kosten in Höhe von 9,3 Millionen beteiligen wollte. Wohl auch aus politischen Gründen: EU-Staaten wie Deutschland sahen in der Rettungsaktion einen zusätzlichen Anreiz für Flüchtlinge, das Risiko der Überfahrt einzugehen. Statt selbst Verantwortung zu übernehmen und Italien zu entlasten, setzte man auf Abschreckung und Abschottung – eine zynische Strategie, um möglichst wenig gerettete Menschen im eigenen Land aufnehmen zu müssen.
Seitdem hat sich die Lage für Flüchtlinge dramatisch zugespitzt. Immer weniger Menschen schaffen es lebend über das Mittelmeer. Schiffbrüchige werden zurück nach Libyen gebracht, wo sie unter katastrophalen Bedingungen in überfüllten Internierungslagern zusammengepfercht werden. Die Deutsche Botschaft berichtet von „KZ-ähnlichen Verhältnissen“, von Folter, Sklaverei und Exekutionen. Manche Flüchtlinge verharren mehrere Monate in den Lagern, darunter auch schwangere Frauen und Kinder.
Die Europäische Union hält trotz dieser entsetzlichen Menschenrechtsverletzungen an ihrer inhumanen Abschottungspolitik fest. Sie kooperiert weiterhin mit der libyschen Küstenwache, die Flüchtlinge auf offener See abfängt und in das unsichere Bürgerkriegsland deportiert. Und nichts deutet momentan darauf hin, dass sich in nächster Zeit etwas daran ändern wird. Das Massensterben und Leiden vor den Toren Europas wird auch in diesem Jahr weitergehen.
Private Seenotrettung wird kriminalisiert
Das humanitäre Vakuum, das die EU-Staaten hinterlassen haben, wird inzwischen von privaten Seenotrettern gefüllt. Organisationen wie Sea-Watch, Jugend rettet oder SOS Méditerranée wollten dem anhaltenden Sterben nicht länger tatenlos zusehen und haben daher selbst Rettungsschiffe gechartert. Derzeit sind sie an fast jedem zweiten Hilfseinsatz auf dem Mittelmeer beteiligt und spielen damit eine entscheidende Rolle bei der Bergung von verunglückten Fluchtbooten.
Eigentlich sollten die zivilen Lebensretter jede nur denkbare Unterstützung erhalten. Es sollte selbstverständlich sein, dass man Menschen nicht elendig ertrinken lässt. Die Realität sieht aber anders aus: Schiffe von NGOs werden festgesetzt und bei der Rettungsaktionen behindert. Immer häufiger werden auch freiwillige Seenotretter kriminalisiert. So eröffnete die Staatsanwaltschaft im italienischen Trapani Ermittlungen gegen Crew-Mitglieder der Organisation Jugend Rettet. Ihnen wird vorgeworfen, illegale Einwanderung begünstigt zu haben. Der Schiffskapitänin Pia Klemp drohen deswegen bis zu 20 Jahre Haft.
Dabei handeln die Seenotretter bloß nach internationalem Recht. Laut Artikel 98 der UN-Seerechtskonvention ist jeder Schiffsführer sogar dazu verpflichtet, „so schnell wie möglich Personen in Seenot zu Hilfe zu eilen, wenn er von ihrem Hilfsbedürfnis Kenntnis erhält“. Die Geretteten müssen anschließend an einen Ort gebracht werden, an dem keine Lebensgefahr besteht und eine grundlegende Versorgung sichergestellt ist. Es sind also nicht die Seenotretter, die geltendes Gesetz ignorieren, sondern die europäischen Staaten, die sich der unterlassenen Hilfeleistung schuldig gemacht haben.
Das Ende der Humanität
Im Diskurs um die Seenotrettung müssen sich freiwillige Helfer zunehmend für ihre Arbeit rechtfertigen. Sie werden beschuldigt, falsche Hoffnungen bei Flüchtlingen zu wecken und sie damit aufs Mittelmeer zu treiben. Tatsächlich aber sind Rettungsschiffe keine Magneten. Wie eine groß angelegte Studie der Universität Oxford zeigt, besteht kein bedeutender Zusammenhang zwischen der Zahl der privaten Rettungsschiffe und der Zahl der Überfahrten. Seenotrettungen führen keineswegs zu mehr Flüchtlingen – dafür aber zu weniger Toten.
Doch selbst wenn es einen sogenannten Pull-Faktor gäbe, würde das nichts an der Notwendigkeit von Seenotrettungen ändern. Es geht schlicht um einen zivilisatorischen Grundstandard, den es einzuhalten gilt: Wer sich in Lebensgefahr befindet, dem muss geholfen werden. Denn jeder Einzelne besitzt eine Würde, die ihm nicht abgesprochen werden darf. Auf dieser Überzeugung baut jede Gesellschaft, die einen Anspruch auf Humanität erhebt.
Dass nun darüber diskutiert wird, ob Menschen in Lebensgefahr gerettet werden sollten, stellt dagegen einen moralischen Tiefpunkt der letzten Jahre dar. Es ist der Schritt in eine Gesellschaft, in der Menschenleben zur Verhandlungsmasse werden – eine Gesellschaft, deren eigenes Wertefundament erodiert.