Mit Social Distancing, Isolation und Krankheitsängsten kennt sich unser Kolumnist Alexander Jendretzki bestens aus – ohne es zu wissen, hat er lange für den Ausnahmezustand geprobt. 7 Tipps für alle, die jetzt alleine zuhause sind und mit Ängsten, Einsamkeit oder psychischen Erkrankungen zu kämpfen haben.

In dem Film „Melancholia“ von Lars von Trier ist es ausgerechnet die schwer depressive Protagonistin Justine, die angesichts eines drohenden Weltuntergangs ruhig und besonnen bleibt. Während die geistig Gesunden um sie herum die Fassung verlieren und in Panik geraten, blüht Justine förmlich auf und redet ihren verzweifelten Familienangehörigen gut zu.

An diese Pointe des Films musste ich in den vergangenen Tagen häufig denken. Ich war nämlich guter Dinge, dass es auch mir so ergehen wird. Ich dachte, ich sei gewappnet für den Ausnahmezustand der Pandemie. Denn das, was jetzt auf so viele Menschen zukommt, kenne ich aus meinen depressiven Episoden und Angstzuständen nur zu gut: der soziale Rückzug, die hypochondrische Selbstüberprüfung, die Zukunftsängste und das alleine zuhause Rumhängen, mit zu viel Zeit zum Grübeln.

Bin ich in Zeiten des Coronavirus also ganz in meinem Element, genau wie die Protagonistin von „Melancholia“? Eine nette Vorstellung, die sich leider als trügerisch herausgestellt hat: Nach einer Woche selbstauferlegter Isolation bin ich mitten in der Nacht mit Schüttelfrost, Übelkeit, kaltem Schweiß und Todesängsten aufgewacht. Was sich anfühlte wie eine heftige Grippe war in Wahrheit bloß das neuste Gesicht meiner Panikattacken. Meine Angststörung ist eine einfallsreiche und wandelbare Dreckssau – diesmal hat sie sich als Covid-19 ausgegeben, um mir den größtmöglichen Schrecken einzujagen.

Damit hätte ich rechnen können. Es geht schließlich nicht spurlos an einem vorbei, wenn man tagelang allein zuhause den Schreckensmeldungen rund um das Coronavirus ausgesetzt ist. Und wenn man ständig darüber nachdenkt, dass man jetzt – in Zeiten der Kontaktsperre – bloß keine Panikattacke bekommen darf, steigt das Risiko, von einer eben solchen heimgesucht zu werden. So ist das Virus nicht nur eine Bedrohung für ältere und vorerkrankte Menschen und eine Belastungsprobe für Personen in systemrelevanten Berufsgruppen – es bedeutet auch eine Belastung für Menschen, die anfällig sind für seelische Krisen und psychische Erkrankungen. Insbesondere Depressionen, Angst– und Panikstörungen, hypochondrische Störungen oder Zwangsstörungen können durch die Pandemie forciert werden.

Wenn ihr also alleine lebt, euch einsam fühlt, wenn ihr mit Ängsten kämpft oder psychische Erkrankungen habt, müsst ihr nun ganz besonders gut auf euch acht geben. Hier sind sieben Tipps von einem, der schon „Social-Distancing“ betrieben hat, lange bevor es eine von der Bundeskanzlerin höchstpersönlich angeordnete Maßnahme war.

1. Bleibt zuhause! Es war nie so leicht, Leben zu retten

Okay, das wisst ihr schon. Aber man kann es nicht oft genug sagen. Also: „Bleibt zuhause! Bleibt zuhause! Bleibt zuhause!“ Führt euch immer wieder vor Augen, dass ihr das nicht nur für euch selbst, sondern primär für andere tut. Es war noch nie so einfach, gutes Karma zu sammeln. Deshalb rettet Leben, indem ihr nachmittags im Pyjama auf der Coach liegt und beim Netflix-Serienmarathon wegdöst.

Ich habe meine Selbstisolation mit einem gründlichen Frühlingsputz meiner Wohnung eingeleitet und so viele Wollmäuse hinter Heizungen weggesaugt wie noch nie. Sowas mache ich sonst nur, wenn ich Besuch erwarte. Aber jetzt, da ich eine Weile lang allein in meiner Wohnung verbringen werde, verstehe ich es als eine Übung in Selbstfürsorge: Händewaschen ist Körperhygiene; Wohnungsputz ist Psychohygiene.

2. Schränkt eure Mediennutzung ein! Finger weg vom Live-Ticker

Ich habe den Fehler selbst begangen: Der Live-Ticker zur Corona-Krise war eine Woche lang das Erste, was ich angeklickt habe, nachdem ich wach wurde und das Letzte, was ich gelesen habe, bevor ich eingeschlafen bin. Ich habe die Bilder von zwangsbeatmeten Patienten mit in den Schlaf genommen – keine gute Idee. Mittlerweile versuche ich, mein Informationsbedürfnis zu zügeln: Ein-, zweimal am Tag über die aktuelle Lage informieren reicht aus, um auf dem aktuellen Stand zu bleiben. Das rät auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in ihren Empfehlungen für die psychosoziale Gesundheit in der Corona-Krise.

Um unnötiger Verunsicherung durch Verschwörungstheorien und Fake News entgegenzuwirken gilt es, (besonders jetzt) ausschließlich seriöse Medien zu konsumieren. Gegen Angst helfen Fakten. Wenn also euer Onkel dubiose Verschwörungs-Kettenbriefe in der WhatsApp-Familiengruppe postet, schickt ihm die Seite des Robert Koch-Instituts oder den hervorragenden NDR-Corona-Podcast mit unserem heimlichen neuen Staatsoberhaupt, dem Virologen Christian Drosten.

3. Telefoniert miteinander! Als sei wieder 1996

Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal das Telefonieren für mich entdecke. Seit der Erfindung der SMS vermeide ich Telefongespräche wie der Teufel das Weihwasser: „Warum fünf Minuten telefonieren, wenn man das auch umständlich in einem zweistündigen WhatsApp-Chat klären kann? Telefonieren ist was für Rückständige!“ Aber genau wie ich, entdeckt gerade ganz Deutschland das Selbstzweck-Telefonieren wieder.

Es ist eine bedrückende Zeit für Menschen, die zu Ängsten und Einsamkeit neigen. Das Kontakt- und Umarmungsverbot trifft jene am härtesten, für die Nähe gerade jetzt so unerlässlich ist. Deshalb: Zieht euch nicht zurück, sondern sucht Nähe in der Ferne und ruft alte Freunde und Verwandte an. Regelmäßige Telefon-Verabredungen können euch dabei helfen, euren Tag zu strukturieren. Ich bin nun jeden Morgen zum Kaffee-Telefonat verabredet und lese jeden Abend meiner Nichte per Videotelefonie eine Gutenachtgeschichte vor.

4. Seid solidarisch! Anderen zu helfen, hilft auch gegen die eigene Ohnmacht

Wenn ihr könnt: Zeigt euch solidarisch und bietet anderen eure Hilfe an. Bietet älteren Nachbarn an, für sie einkaufen zu gehen. Unterstützt eure Lieblingskneipe oder euer Lieblingskino mit einer Spende oder verzichtet auf die Stornierung von bevorstehenden Kulturveranstaltungen. Applaudiert vom Balkon aus den Ärztinnen, Krankenpflegern, Sanitäterinnen und Verkäufern, ohne die gerade gar nichts laufen würde.

Ich habe mein Ehrenamt als Telefon- und Emailberater für Kinder und Jugendliche wieder aufgenommen, als ich gehört habe, dass die Telefonseelsorgen gerade doppelt soviel Anrufe wie gewöhnlich verzeichnen. Und ich stelle fest: Mit Initiative, Besonnenheit und gegenseitiger Rücksichtnahme hilft man nicht nur den anderen – man tut auch etwas gegen die eigenen Gefühle der Hilflosigkeit und Passivität.

5. Treibt Sport! Bekämpft den unsichtbaren Feind

Es ist so furchtbar banal, aber eben auch wahr: Sport hilft! Trotz Kontaktsperren sind Spaziergänge an der frischen Luft, Joggen und Radfahren weiterhin erlaubt. Und viele Fitnessstudios bieten nun Online-Kurse an.

Ich selbst habe gerade einen YouTube-Kurs im sogenannten „Bodycombat-Workout“ begonnen – ein vom Kampfsport inspiriertes Fitness-Training. Bei geschlossenen Gardinen und zu nervtötendem Techno hüpfe ich in meinem Zimmer umher, während mir ein muskulöser Coach befiehlt, in die Luft zu schlagen und zu treten. Schäme ich mich dabei ein wenig? Ja, schon. Muss ich dabei zwischendurch über mich selbst schmunzeln? Ja, schon. Aber fühle ich mich danach besser? Ja, tatsächlich. Und dann fällt mir auf: „Bodycombat“, Depressionen und die Corona-Krise haben eine bemerkenswerte Gemeinsamkeit. Es ist der Kampf gegen einen unsichtbaren Feind.

6. Seht das Positive! Hoffnungsvolle Gedanken in bedrückenden Zeiten

Dass die Lage sehr ernst ist, muss nun jedem bewusst sein. Doch es gibt auch positive Nachrichten, die uns – bei allem gebührenden Ernst – vorsichtig optimistisch stimmen dürfen. Noch kann keiner sagen, wie es weitergeht, aber Corona könnte durchaus eine Zäsur bedeuten und manches positive Umdenken bewirken. Mir fallen drei Hoffnungsschimmer ein, die in der Luft liegen:

– Wer darauf achtet, kann dieser Tage eine seltene Atmosphäre der Solidarität und Verbundenheit spüren. Ja, es gibt die Hamsterkäufer und Schutzmasken-Horter. Aber nach meiner Wahrnehmung überwiegt der Gemeinsinn. Hinzu kommt ein Gefühl von Gleichzeitigkeit, das man sonst in Ansätzen allenfalls von Wahl-Sonntagen oder alten „Wetten, dass…“-Sendungen kennt. Ein Gefühl, das uns sagt uns: „Wir stecken hier gerade alle gemeinsam drin.“

– Die Corona-Krise hat das Zeug, weltweit Populisten und Nationalisten zu entzaubern und ihre Ahnungslosigkeit offenzulegen. Trumps fatales Herunterspielen der Krise könnte ihm ernsthaft zum Verhängnis werden. Denn anders als in der Klima-, Finanz- oder Migrationspolitik sind die Folgen seiner Inkompetenz für die Bürgerinnen und Bürger unmittelbar und in Echtzeit spürbar. Und um die AfD wird es auffallend still – zur Problemlösung hat sie schlicht nichts Konstruktives beizutragen. In Zeiten der Corona-Krise scheinen sowohl die Hysterie und Hetze als auch die Verharmlosung oder Vertuschung der Populisten nicht gut anzukommen. Stattdessen vertrauen Menschen derzeit mehr denn je auf Qualitätsjournalismus und auf Wissenschaftlichkeit, wie etwa die hohen Zuschauerzahlen der „Tagesschau“ zeigen.

– Die Corona-Krise hat schon jetzt eine positive Auswirkung auf Luft und Klima – weil weniger produziert, gefahren und geflogen wird, hat sich der Ausstoß von Schadstoffen schlagartig reduziert. Das ist zwar nur ein kleiner und kurzfristiger Effekt und wahrscheinlich sind die Emissionen nach der Krise wieder so hoch wie zuvor. Aber wer weiß: Vielleicht wachsen nach einer gemeinsam bewältigten Corona-Krise auch der Glaube und Wille, die Klima-Krise gemeinsam zu bewältigen.

Vielleicht werden wir einst auf die Zeit vor Corona (fortan abgekürzt mit „v. Cor.“?) zurückblicken und sagen: „Wisst ihr noch, vor Corona? Trump war US-Präsident, die AfD saß im Bundestag, der Klimaschutz kam nicht voran und Gesundheits- und Krankenpflegepersonal war rar und unterbezahlt. Wie konnte das eigentlich passieren?“ Okay, ich weiß, jetzt übertreibe ich. Aber hey: Hoffnungsvolle Gedanken sind eben wichtig in bedrückenden Zeiten.

7. Hängt rum! Jetzt ist nicht die Zeit für Selbstoptimierung

Klar, man könnte jetzt die Zeit zuhause nutzen, um eine App zu entwickeln und dann nach der Pandemie karrieremäßig so richtig durchzustarten. Man könnte jetzt eine Programmiersprache lernen, endlich Immanuel Kants „Kritik der reinen Vernunft“ studieren oder an seinem Durchbruch als Motivations-Influencer auf Instagram arbeiten. Aber muss man wirklich auch noch den Pandemie-Shutdown zur Selbstoptimierung nutzen? Wir haben die historisch einzigartige Situation, einmal keine Angst davor haben zu müssen, etwas zu verpassen oder unsere Zeit nicht sinnvoll zu nutzen.

Deshalb ist es jetzt an der Zeit, endlich das PlayStation-Spiel mit Überlänge durchzuzocken, für das ihr vorher keine Zeit hattet. Suchtet ein mittelmäßiges Handyspiel oder schaut euch wie ich die Lieblings-Cartoons eurer Kindheit an.

Aber egal, was ihr jetzt tut – ob ihr die Zahl Pi auf 314 Nachkommstellen auswendig lernt, vom Küchenfenster aus Gartenvögel bestimmt, ein Zelt in der Küche aufschlagt oder Osterhasen aus Klopapierrollen bastelt – fühlt euch dabei weder schlecht noch schuldig. Denkt dran: Ihr seid nicht unnütz, ihr rettet Leben.