Natalie Grams war einmal überzeugte Homöopathin. Heute ist sie eine der entschiedensten und prominentesten Homöopathie-Kritikerinnen. Wir haben uns mit ihr unterhalten: über ihren Sinneswandel, den religiösen Charakter der Homöopathie und über Abmahnungen durch Pharmazie-Unternehmen.

Frau Grams, Sie sind studierte Medizinerin und haben über viele Jahre eine Praxis für Homöopathie geführt. Irgendwann haben Sie aber mit der Homöopathie gebrochen. Wie kam es dazu?

Zweifel sind mir erst gekommen, als ich für ein Buch recherchiert habe, mit dem ich die Homöopathie-Kritiker eigentlich von der Wirksamkeit der Heilmethode überzeugen wollte. Es kam dann aber anders. Durch die Recherchen habe ich nämlich gemerkt, dass die gesundheitlichen Verbesserungen, die meine Patienten und ich erfahren haben, durch ganz andere Gründe als eine arzneiliche oder spezifische Wirksamkeit der Homöopathie erklärt werden können. 

Ich musste mir eingestehen, dass es weitaus plausiblere und logischere Erklärungen gibt, die mit dem heutigen Wissen wirklich vereinbar sind. In einem schmerzhaften Umdenkprozess habe ich mich schließlich von der Homöopathie abgewandt und meine Praxis aufgegeben – auch weil ich meinen Patienten nichts anbieten wollte, für das ich selbst nicht mehr stehen kann.

Was war das für ein Gefühl, als Sie gemerkt haben, dass die Fakten gegen die Homöopathie sprechen? Da ist doch ein langjährig aufgebautes Weltbild in sich zusammengefallen …

Es war natürlich schwierig für mich, als mein Glaube an die Homöopathie in sich zusammenbrach. Er war auf eine gewisse Art mit meiner Identität verwachsen und es war ein schmerzhafter Prozess, sich von ihm loszusagen. Insofern kann ich gut verstehen, dass viele Menschen, die noch an die Homöopathie glauben, zunächst einmal emotional und irrational auf Kritik reagieren. Ich habe das auch getan. Mithilfe der Wissenschaft habe ich aber eine neue Orientierung gefunden. Heute bin ich mir sicher, dass dieser Blick auf die Homöopathie und auf die Medizin der bessere ist. Er ist nämlich begründbar und falsifizierbar.

Wie kam es überhaupt dazu, dass Sie eine Zusatzausbildung zur Homöopathin begonnen haben? 

Während meines Studiums hatte ich einen schweren Autounfall, der fast tödlich ausgegangen wäre. Obwohl ich mich körperlich davon erholt hatte, litt ich weiterhin unter Symptomen wie Herzrasen und Ohnmachtsanfällen. Ich ging zu vielen Ärzten, aber keiner von ihnen konnte eine Ursache für mein Leiden finden. Erst eine Homöopathin ließ mich den Zusammenhang zum Autounfall herstellen. Ich hatte wohl eine posttraumatische Belastungsstörung und meine Beschwerden ließen sich durch einen innerlichen Stressprozess erklären. 

Nachdem ich die von ihr verschriebenen Globuli eingenommen hatte, ging es mir auf einmal besser. Es war eine Art Erweckungserlebnis. Ich dachte mir, dass auch ich die Homöopathie erlernen sollte, um sie meinen Patienten neben der Schulmedizin anbieten zu können. Denn der Erfolg, den ich selbst damit erfahren habe, hat mir ja recht gegeben. Dass dieser Erfolg ganz anders erklärt werden kann und auch werden muss, habe ich erst sehr viel später verstanden.

Ihre homöopathische Praxis ist mehrere Jahre sehr erfolgreich gelaufen. Wie haben Ihre Patientinnen und Patienten reagiert, als sie erfahren haben, dass Sie der Homöopathie abgeschworen haben?

Die meisten meiner Patientinnen und Patienten haben damals mitbekommen, dass ich mich in einem Prozess des Umdenkens befinde. Sie hatten auch Verständnis dafür, dass ich keine Homöopathie mehr praktizieren kann, wenn ich selbst nicht mehr dahinterstehe. Weniger nachvollziehen konnten sie aber die Gründe, warum ich mich von der Homöopathie abgewendet habe. Diejenigen, die sich getraut haben, mein Buch zu lesen und mit mir darüber ins Gespräch zu kommen, haben meine Entscheidung eher verstanden als diejenigen, die sich dem Diskurs verschlossen haben.

Für mich war dieser ganze Prozess alles andere als einfach. Man hat ja ein Vertrauensverhältnis zu den Patienten, die man so eng und so lange behandelt. Es fällt dann schwer, plötzlich sagen zu müssen: „Ach, übrigens, ich hab’ die ganze Zeit Schmarrn mit Ihnen gemacht.“ Da verliert man natürlich an Reputation und Vertrauen. Aber ich habe damals schon gemerkt, dass es in dieser ganzen Diskussion eben nicht nur um Argumente geht, sondern dass da ganz viele andere Faktoren eine Rolle spielen. Und das hat mich anfangs mehr überrascht, als es vielleicht hätte tun sollen.

Ist es Ihnen rückblickend peinlich, dass Sie ihren Patientinnen und Patienten homöopathische Mittel verschrieben haben? 

Nein, gar nicht. In der Zeit, in der ich Homöopathie angeboten habe, habe ich ja wirklich daran geglaubt. Ich habe das nicht einfach so nebenbei gemacht, sondern war fest davon überzeugt, dass es die bessere Medizin ist. Deswegen kann ich mir auch nicht vorwerfen, dass ich meine Patienten betrogen hätte. Ich habe mich getäuscht und damit auch meine Patienten getäuscht. Aber es war kein Betrug, weil keine böse Absicht dahinterstand. Im Gegenteil: Ich habe in allerbester Absicht gehandelt.

Trotzdem tut es mir natürlich unendlich leid, dass ich meinen Irrtum nicht bemerkt habe. Das war mein eigener Fehler. Zugleich sehe ich aber auch das Medizinstudium und unsere Gesellschaft in der Verantwortung. Über Jahrzehnte wurde die Homöopathie nämlich als etwas durchweg Positives gehypt, während kritische Stimmen kaum zu Wort kamen. Erst durch die öffentlichkeitswirksame Aufklärung durch das Informationsnetzwerk Homöopathie (INH) hat sich daran etwas geändert. Man kommt nun nicht mehr an der Kritik vorbei. Und wer es bis jetzt noch nicht verstanden hat, der will es einfach nicht verstehen. Es liegt jedenfalls nicht mehr daran, dass man es noch nicht gehört hat.

Das klingt ganz schön hart. Meinen Sie nicht, dass Sie Leute mit solchen Aussagen vergraulen, sodass sie sich den Argumenten noch viel mehr verschließen? 

Im Vergleich zu anderen Kritikern bin ich noch ziemlich sanftmütig, auch wenn ich in der Öffentlichkeit oft nicht so wahrgenommen werde. Ich habe ein großes Verständnis für den Glauben an die Homöopathie und für die Hoffnung, die damit verbunden ist. Da ich selbst einmal daran geglaubt habe, weiß ich, was alles damit zusammenhängt. Deswegen versuche ich auch, immer eine gewisse Weichheit in diesem Bereich zu behalten. Es geht mir überhaupt nicht darum, hier jemandem Schuld zuzuweisen oder zu sagen, dass Patienten, die an die Homöopathie glauben, bescheuert oder doof sind.

Gleichzeitig merke ich aber auch, dass ich pointierter und teilweise sarkastischer werde, je länger ich aus der Homöopathie raus bin. Eben weil man mit den besten Argumenten oftmals nichts erreicht und auch mit der sanften und freundlichsten Art oft nur Hass erntet. Das ist natürlich frustrierend und man muss als Kritiker aufpassen, dass man nicht abhärtet. Umso wichtiger ist es, sich immer wieder gegenseitig daran zu erinnern, dass wir alle nur Menschen sind.

Viele Menschen berichten aus eigener Erfahrung, dass ihnen die Homöopathie geholfen hat. Was sollte daran verkehrt sein, wenn sie sich damit wirklich besser fühlen? Es heißt doch immer: „Wer heilt, hat recht.“ 

Das ist ja auch richtig. Wer heilt, hat tatsächlich recht – aber nur, wenn er nachweisen kann, dass er ursächlich für die Heilung verantwortlich ist. Bei der Homöopathie ist das nicht der Fall. Meistens haben einfach die Selbstheilungskräfte des Körpers ihr Werk getan. Harmlose Beschwerden werden nach einigen Tagen durch den natürlichen Krankheitsverlauf besser. Wer in dieser Zeit Homöopathie eingenommen hat, glaubt fälschlicherweise, es sei durch die homöopathischen Mittel besser geworden.

Viele Menschen schließen von dieser Erfahrung auf die grundsätzliche Wirksamkeit der Homöopathie. Sie probieren es beim nächsten Mal auch bei schwerwiegenden und chronischen Krankheiten wie Diabetes oder bei einer Lungenentzündung. An diesem Punkt wird es dann gefährlich. Denn durch das Verzögern oder Unterlassen einer wirksamen Behandlung geht man ein erhebliches gesundheitliches Risiko ein.

Überzeugte Homöopathen würden entgegenhalten, dass auch die Schulmedizin ihre Fehler macht …

Wenn man die Homöopathie und andere pseudomedizinische Verfahren kritisiert, heißt das nicht, dass man die Fehler und Schwierigkeiten in der normalen Medizin ignoriert. Das ist mitnichten der Fall. Es gibt auch dort viele Problemfelder, die man kritisieren und verbessern muss. Doch alle Fehler der sogenannten Schulmedizin machen die Homöopathie nicht wirksamer. 

Sehen Sie bei aller Kritik auch positive Aspekte bei der Homöopathie?

Als ich aus der Homöopathie ausgetreten bin, habe ich das noch getan. Ich dachte mir: „Naja, die reden doch auch so schön lange mit den Patienten, die nehmen sie so ernst und das ist doch irgendwie auch ganz wertschätzend und positiv.“ Je länger ich aus der Homöopathie raus bin, umso mehr sehe ich aber den manipulativen Anteil in diesen langen Gesprächen, die dann letztlich nur zu Pseudo-Diagnosen und Pseudo-Therapien führen. Eigentlich ist das alles andere als wertschätzend. Es ist – um es böse zu sagen – eine Verhöhnung von Patienten und ihren Beschwerden. Wir brauchen Ehrlichkeit in der Medizin, keinen homöopathischen Humbug.

Was wir aber von der Homöopathie lernen können, ist zum einen das Bewusstsein dafür, dass es häufig gar keine Medizin braucht. Ganz viele Menschen nehmen die Homöopathie und es geht ihnen damit besser. Es ist ein Hinweis, dass sich der Körper in diesen Momenten selbst geheilt hat und wir unseren Selbstheilungskräfte viel mehr vertrauen können.

Zum anderen sehe ich auch, dass eine echte Zuwendung zum Patienten etwas ist, was wir in der Medizin wieder besser hinbekommen müssen. Viele Ärzte würden das gerne tun, haben in der Praxis aber schlicht keine Möglichkeiten und Strukturen dafür. Gerade in Kliniken muss daher mehr für das Personal getan werden, damit wir wieder unserer eigentlichen Funktion nachkommen können: Nämlich für die Menschen da zu sein und sie gut zu behandeln.

Bei einer Umfrage aus dem Jahr 2014 haben 60 Prozent der Deutschen angegeben, dass sie homöopathische Mittel nehmen. Wieso sind es so viele, obwohl die Faktenlage doch so eindeutig ist? 

Dass es so viele sind, liegt wahrscheinlich an einem fehlenden Grundverständnis für Wissenschaft und den zahlreichen Falschinformationen rund um die Homöopathie. Sie wird immer noch als eine Art Naturheilkunde angepriesen, die sanft, nebenwirkungsfrei, ja geradezu heilig ist. Damit wird auch gegen die sogenannte Schulmedizin polarisiert.

Ich glaube aber, dass wir mit unserer Aufklärungsarbeit schon ziemlich viel entgegensetzen konnten. Die Stimmung dreht sich und Menschen werden zunehmend kritischer. Erst heute habe ich die Zahlen aus dem neuen ABDA-Report gelesen. Sie zeigen deutlich, dass Umsatz und Absatz von Homöopathie seit 2016 zurückgeht.

Sie sagen, die Homöopathie werde als „heilig“ angesehen. Ziehen Sie bewusst diese Parallele zwischen Homöopathie und Religiosität?

Ja, absolut. Ich habe in vielen Diskussionen das Gefühl, die Begriffe „Homöopathie“ und „Religion“ eins zu eins austauschen zu können und es liefe auf genau das gleiche Gespräch hinaus. Die Homöopathie ist ein Glaubenskonstrukt und wird genauso heftig und irrational verteidigt wie andere Glaubenslehren. 

Von vielen überzeugten Homöopathen werde ich gewissermaßen als Apostatin behandelt. Die Feindseligkeit, die ich deswegen erlebe, erinnert stark an den Hass, den man anderen Glaubens-Abtrünnigen zukommen lässt. Das ist schon wirklich sehr bizarr, aber auch sehr bezeichnend.

Das Pharmaunternehmen Hevert hat Sie kürzlich zu einer Unterlassungserklärung aufgefordert, weil Sie in einem Interview erklärt haben, dass Homöopathie nicht über den Placebo hinaus wirkt …

… Dabei habe ich das so eigentlich gar nicht gesagt. 

Sondern? 

Die Frage in dem Interview mit der Rheinpfalz lautete: „Machen wir es kurz: Wirken Homöopathika?“ Ich habe geantwortet: „Nicht über den Placebo-Effekt hinaus“, habe dann aber in der gleichen Antwort erklärt, dass es natürlich einzelne Studien gibt, die der Homöopathie darüber hinaus einen positiven Effekt bescheinigen. Diese waren aber methodisch meist so schlecht gemacht, dass man daraus nichts ableiten konnte. Und wenn man sich die gesamte Studienlage ansieht, dann muss man anerkennen, dass es wohl allein Placebo- und Kontexteffekte sind, die zu einer Verbesserung führen. Je besser das Verhältnis zum Arzt ist und je größer das Vertrauen, umso stärker können die Effekte sein.

Es war eine ganz lange Antwort, die ich auf die Frage gegeben habe. Hevert und seine Produkte habe ich dabei nie erwähnt. Man hat sich dann aber nur den einen Satz herausgepickt und wohl gemeint, mich damit zum Schweigen bringen zu können. 

Wie ist denn der aktuelle Stand der Auseinandersetzung mit Hevert?

Ich habe die Unterlassungserklärung natürlich nicht unterschrieben. Von Hevert habe ich seitdem nichts mehr gehört. Spätestens aber, als Jan Böhmermann den Fall in seiner Sendung Neo Magazin Royal satirisch aufgegriffen hat, wurde klar, dass das für die gesamte Homöopathie-Befürwortung ein Eigentor war.

Höre ich da etwa Schadenfreude raus?

Ehrlich gesagt tut es mir sehr leid. Denn ich habe weder gegen Hevert noch gegen sonst irgendeinen Homöopathen oder Homöopathie–Befürworter irgendetwas persönlich. Ich denke, dass es für sie nun noch schwerer ist, als es ohnehin schon war. Andererseits finde ich es sehr bedenklich, dass man in einer sachlichen Auseinandersetzung zu juristischen Mitteln greift. Eine Pharmafirma verklagt mich als Privatperson, weil ich den wissenschaftlichen Kenntnisstand wiedergebe. Das ist schon krass und das finde ich – gerade in so einer David-gegen-Golliath-Situation – nicht in Ordnung.

Abgesehen davon freut es mich natürlich, dass die Homöopathie–Kritik in der Gesellschaft und Politik angekommen ist. Es vergeht kaum mehr eine Woche, in der nicht irgendwo ein kritischer Bericht oder Beitrag erscheint. Auch die großen Fraktionen diskutieren jetzt auf allerhöchster Ebene darüber, ob zumindest die Erstattung durch Krankenkassen für Homöopathie beendet werden soll – so wie das jetzt auch in Frankreich entschieden wurde. 

Die Zeichen stehen ja ganz gut. Stellen Sie sich einmal vor, alle Homöopathie-Befürworter würden morgen von ihrem Glauben abfallen. Was würden Sie dann tun? 

Es würde mir schon vollkommen reichen, wenn sich die rechtliche Situation ändert, sodass die Homöopathie nicht mehr als Arzneimittel gilt, nicht mehr in Apotheken verkauft wird und nicht mehr von Krankenkassen erstattet wird. Wenn sie jemand für sich auf eigene Kosten und eigene Verantwortung anwenden will, ist das für mich völlig in Ordnung.

Aber mal angenommen, dieses Feld wäre wirklich beackert: Dann würde ich mich auf jeden Fall in die Impf-Aufklärung stürzen und auch die Anthroposophie anpacken, die noch viel mehr Glaubensgebilde und Weltanschauung ist als die Homöopathie. Die Anthroposophie greift noch viel krasser in das Leben von Menschen ein und ist mit ihren Waldorfschulen sogar Teil unseres Bildungssystems. Wie das geschehen konnte, ist mir völlig unverständlich.

Vielleicht würde ich aber auch einfach wieder Ärztin werden. Denn auf eine gewisse Weise ist diese ganze Aufklärung doch schon ziemlich anstrengend. (lacht)