Menschen, die unter Depressionen leiden, fällt es schwer, ihr Leid zu verstehen und in Worte zu fassen. Eine schwere Depression bedeutet nicht bloß mehr Traurigkeit oder weniger Freude, sondern eine viel grundlegendere Veränderung des Selbst- und Welterlebens. Die philosophische Tradition der Phänomenologie kann helfen, das Unaussprechliche nachvollziehbar zu machen. Ein Text von Jannis Puhlmann.

Im Frühjahr 1979 eröffnet Piet Kuiper die „Lindauer Psychotherapie-Wochen“ mit einem Vortrag über Depressionen: „An die Stelle der Lebensfreude tritt eine quälend düstere Stimmung, wie man sie erlebt, wenn man jemanden, den man liebt, verloren hat“, so beschreibt er an diesem Tag die Hauptmerkmale der Depression, „die Welt verliert ihre Farbe, alles wird grau, im schlimmsten Fall verflucht man seine Existenz und den Tag seiner Geburt.“ Piet Kuiper ist ein renommierter niederländischer Professor für Psychiatrie, Leiter einer psychiatrischen Klinik und Autor zahlreicher Fachbücher – eine Koryphäe von internationalem Rang. Für seine Eröffnungsrede vor Hunderten von Therapeuten, Ärztinnen und Sozialpädagoginnen in der Lindauer Stadthalle erhält er stehenden Applaus.

Einige Jahre später beginnt Piet Kuiper, an heftigen Kopfschmerzen zu leiden. Hinzu kommen eine ganze Reihe von unerklärlichen Veränderungen seines Gemütszustandes: Seine Stimmung verdüstert sich, er schläft unverhältnismäßig viel, fühlt sich antriebslos und wird von quälenden Schuldgefühlen, von Schwermut und Angst heimgesucht. Allmählich verliert er sein Interesse an allem, was ihm einst Freude und Erfüllung bereitet hat.

Der Psychiatrieprofessor glaubt zunächst an eine Viruserkrankung, später an eine beginnende Demenz. Schließlich verirrt er sich in dem dunklen und wirren Labyrinth seiner Erkrankung, verliert den Bezug zur Realität und entgleitet in eine nihilistische Psychose: Er lebt in dem Wahn, er sei bereits verstorben, und fortan dazu verdammt, als lebender Toter über die Erde zu wandeln – seine Krankheit lässt ihn buchstäblich durch die Hölle gehen.

Es vergehen drei Jahre – zwei Aufenthalte in der geschlossenen Psychiatrie, unzählige Expertengespräche und eine Behandlung mit Psychopharmaka – bis auch Piet Kuiper selbst begreifen kann, dass er eine schwere Depression mit psychotischer Symptomatik erlebt hat. All sein Wissen über die menschliche Psyche versagte vor dieser Krankheit. Als Psychiater verfügte er über umfassendes theoretisches und praktisches Fachwissen – doch die ganz persönliche Erfahrung als Betroffener stellte sich als eine völlig neue Dimension des Wissens heraus. Er wurde vom Experten, der Reden vor Fachpublikum hält, zum hilflosen Patienten, dem die Welt und sein Leiden rätselhaft und unverständlich erschienen.

„Erklären“ ist nicht gleich „Verstehen“

So wie Piet Kuiper erkennen viele depressive Menschen schlicht nicht, dass sie an einer Depression leiden – dass ihre Niedergeschlagenheit, ihre Verzweiflung, ihre Minderwertigkeits– und Schuldgefühle durch eine psychische Krankheit ausgelöst werden. Und auch wenn sie wissen, dass sie unter Depressionen leiden, erscheint es ihnen schwer bis unmöglich, ihr Leid in Worte zu fassen. Die Erfahrung einer Depression liegt an der Grenze des Sagbaren; an ihr versagt die Sprache.

Was für Betroffene schwer zu artikulieren ist, ist für Angehörige umso schwerer nachzuvollziehen. Und wer wirklich verstehen will, wie es sich anfühlt, depressiv zu sein, wird aus den Symptombeschreibungen der einschlägigen Diagnosemanuale nicht schlau: Depressive Verstimmung, Interessens- und Freudlosigkeit, Antriebsmangel/ erhöhte Ermüdbarkeit, heißen dort die Hauptsymptome. Doch was ist das eigentlich, eine „Verstimmung“? Und wie ist es, „depressiv verstimmt“ zu sein? Wie Traurig-sein, bloß intensiver? Ist es nicht gerade das Fehlen jedweder Gefühlsregung – das paradox anmutende Gefühl der Gefühllosigkeit –, von dem so viele Depressive berichten?

Der Psychiater und Existenzphilosoph Karl Jaspers unterscheidet zwischen erklärenden und verstehenden Ansätzen in der Psychopathologie. „Erklären“ bedeutet, psychische Phänomene aus einer Dritten-Person-Perspektive zu betrachten und möglichst objektiv Kausalzusammenhänge zu bestimmen – ein Ansatz, wie er in den Naturwissenschaften üblich ist. „Verstehen“ dagegen beansprucht unser Einfühlungsvermögen, unsere Fähigkeit, mittels Empathie die Sinnhaftigkeit menschlichen Erlebens und Handelns zu begreifen – ein Ansatz, der typischerweise in der Literatur, in der Kunst oder in den Humanwissenschaften Verwendung findet. Kurz: Die Natur lässt sich erklären, das Seelenleben aber will verstanden werden.

Die passende Methode für ein tieferes Verständnis der Erfahrungen psychisch kranker Menschen findet Jaspers in der Philosophie Edmund Husserls. Husserl hat mit seiner Phänomenologie eine der maßgeblichen philosophischen Strömungen des 20. Jahrhunderts begründet, die später von Denkern wie Martin Heidegger, Maurice Merleau-Ponty oder Jean-Paul Sartre weitergedacht wurde. Die Phänomenologie zielt darauf, die essenziellen Strukturen menschlicher Erfahrung zu beschreiben – das leibliche, kulturelle und intersubjektive Eingebettetsein des Menschen in seiner Lebenswelt; mit Heidegger gesprochen: sein In-der-Welt-sein.

Die Phänomenologie kann zwar nicht ergründen, woher die Depression kommt – auf welchen Veränderungen des Hirn-Stoffwechsels sie beruht und welche genetischen, sozialen und psychischen Bedingungen dazu führen, dass sie ausbricht. Aber eine phänomenologische Untersuchung kann helfen, die Sprach- und Hilflosigkeit angesichts der existenziellen Erfahrungen in der Depression zu lindern und den Blick zu schulen für Phänomene, die einer naturwissenschaftlichen Betrachtung verschlossen bleiben.

Unter der Glasglocke – Depression als Störung der Lebenswelt

In ihrem Roman „Die Glasglocke“ gibt die US-amerikanische Dichterin und Autorin Sylvia Plath eine der eindrücklichsten und treffendsten Beschreibungen von Depressionen. Mit der titelgebenden Metapher vergleicht sie ihre depressiven Verstimmungen mit einem Leben unter einer „Glasglocke“, abgetrennt vom Rest der Welt: „Egal wo ich saß – ob auf dem Deck eines Schiffes oder in einem Straßencafé in Paris oder Bangkok –, immer saß ich unter der gleichen Glasglocke in meinem eigenen sauren Dunst.“

Sie offenbart damit eine nur schwer zu artikulierende Wahrheit über Depressionen. Nämlich dass sich Depressionen nicht nur durch eine Veränderung einzelner Gefühle, Gedanken oder Wahrnehmungen bemerkbar machen: Depressiv zu sein bedeutet nicht bloß weniger froh, mehr traurig, weniger hoffnungsvoll und mehr ängstlich zu sein. Eine Depression kann vielmehr eine grundlegendere Veränderung des gesamten Rahmens und der Struktur des Denkens, Fühlens und Wahrnehmens bedeuten – eine Transformation von dem, was Edmund Husserl die „Lebenswelt“ nennt.

Unter der Lebenswelt versteht Husserl unsere vorreflexive, vorwissenschaftliche Welterfahrung. Die unhinterfragte Basis unseres alltäglichen Denkens und Handelns, die uns so selbstverständlich vorkommt, dass wir uns ihr meist nur dann bewusst werden, wenn sie ihre natürliche Selbstverständlichkeit verliert. Eine Beschreibung von Depressionen auf dieser Ebene bedeutet, einen kontraintuitiven Perspektiven- und Einstellungswechsel vorzunehmen und die Krankheit nicht länger im Erkrankten, sondern umgekehrt, den Erkrankten in seiner Krankheit zu verorten. Mit den Worten Merleau-Pontys: „Die Wahrheit bewohnt nicht bloß den inneren Menschen. Denn es gibt keinen inneren Menschen. Der Mensch kennt sich allein in der Welt.“

Das ist mehr als nur ein theoretischer Kniff. Denn die Entfremdungserfahrung, sich in einer unvertrauten und unheimlichen Lebenswelt wiederzufinden, gehört zu den gängigsten Schilderungen von Betroffenen: unter Wasser, im Nebel, dunkle Gewitterwolke, farblose Schattenwelt. Die Lebenswelt des Depressiven wird zu einem fremden und einsamen, einem freud- und bedeutungslosen Ort. Unter der Glasglocke wirkt alles fern und unzugänglich, irgendwie „nicht ganz da“ und irreal. Auch der Psychiater Piet Kuiper beschreibt eine solche Erfahrung im Anfangsstadium seiner Depression: „Ich konnte nichts mehr sehen,  sah zwar äußerlich, mit den Augen, aber nicht mit den Augen des Geistes und der Seele. Die Welt wurde mir unwirklich.“

Wenn eine Depression also das verändert, was uns für gewöhnlich so unproblematisch, selbstverständlich und vertraut erscheint, wird klar, warum Betroffenen schlicht das Vokabular fehlt, sich auszudrücken. Um von Depressionen sprechen zu können, greifen wir deshalb zu Metaphern, zu Bildern und Vergleichen. Und nicht ohne Grund nimmt sich die Kunst seit Jahrhunderten der diffizilen Aufgabe an, die unergründlichen Zustände von Depression und Melancholie sichtbar, nachvollziehbar und erfahrbar zu machen.

Wie ein lebender Leichnam – Depression als Korporifizierung

Dass eine Depression nicht nur die Psyche, sondern auch den Körper befällt, ist gemeinhin bekannt. Zu den typischen körperlichen Beschwerden bei Depressionen zählen: Kopfschmerzen, Brust-, Herz-, oder Atembeschwerden, Rückenschmerzen, Schwindelgefühle oder Magen- Darm-Beschwerden. Die Psyche beeinflusst den Körper und umgekehrt. Und in der Depression ziehen sie sich gegenseitig herunter – so oder so ähnlich klingt es jedenfalls, wenn psychosomatische Beschwerden in Apothekenzeitschriften oder Ratgeberbüchern beschrieben werden. Wie das überhaupt möglich sein kann, ist eines der ältesten Probleme der Philosophiegeschichte. Die alte Frage der psychophysischen Kausalität; nach dem Zusammenhang von Leib und Seele.

Die Phänomenologie gibt uns eine erhellende Perspektive auf die körperlichen Veränderungen bei Depression. Im Anschluss an Husserl hat sich vor allem der französische Philosoph Maurice Merleau-Ponty mit der eigentümlichen Doppelrolle des menschlichen Körpers beschäftigt. Der Körper, so Merleau-Ponty, ist uns auf zwei grundlegend verschiedene Arten gegeben: als Körper, insofern er ein visuell und taktil erfahrbarer Gegenstand ist (also der Körper der Anatomen, Physiologinnen und Verhaltensforscherinnen), und als Leib, insofern er ein Medium der Erfahrung ist, das einen zeitlichen, räumlichen und sozialen Lebensweltbezug überhaupt erst ermöglicht und stillschweigend in allen Gefühlen, Wahrnehmungen oder Handlungen gegenwärtig ist. Kurz: Der Mensch hat nicht bloß einen Körper, er ist auch sein Leib.

Diese Dialektik von Leib und Körper ist in der Depression gestört. Der Leib wird weniger als Medium der Lebenszuwendung erfahren, sondern zunehmend als starres Körper-Objekt verdinglicht und als ein Hindernis im Kontakt mit der Umwelt und anderen Menschen empfunden. Der Depressive fühlt sich eingeschlossen im eigenen Körper, erlebt ihn als schwerfällig, als taub, schmerzhaft, kraftlos und seinem Élan vital beraubt. Er erfährt eine Art „Korporifizierung“ des Leibes – eine Annäherung an den leblosen Körper; an den Leichnam.

Der korporifizierte Leib verliert seine emotionale Resonanzfähigkeit und schneidet den Depressiven von allen starken Gefühlsregungen ab. Er schwingt nicht mehr mit der Welt und anderen Menschen, bis zu dem Punkt, an dem ihn nichts mehr „bewegen“ oder „berühren“ kann. Anstelle von intensiven Emotionen – sei es Freude oder Trauer – stellt sich eine generalisierte Niedergeschlagenheit oder Gedämpftheit ein.

Die oft beklagte „innere Leere“, die Antriebslosigkeit und der Verlust von Interesse und Freude sind deshalb untrennbar an die Erfahrung des Leibes als Ankerplatz der Lebenswelt gebunden. Körperbeschwerden sind keine bloßen Nebenerscheinungen psychischer Probleme – die Depression ist immer auch eine leibliche Erkrankung.

Aus der Zeit gefallen – Depression als Chronopathologie

Schon die alten Griechen wussten, dass Depressionen etwas mit Zeitlichkeit zu tun haben. Chronos, der Gott der Zeit (bei den Römern war es Saturn), galt auch als Gott der Melancholie, der Lähmung und des Stillstands.

Eine Depression bedeutet für Betroffene nicht nur einen heftigen Bruch in der Kontinuität ihres gewohnten Lebens, sondern auch eine Verlangsamung, eine Retardierung ihres Zeiterlebens. Ihre „innere Uhr“ gerät aus den Fugen. Das offenbart sich nicht nur ganz augenscheinlich an der verlangsamten Bewegung, Gestik und Mimik – es lässt sich auch messen: In klinischen Studien konnte gezeigt werden, dass depressive Menschen vorgegebene Zeitintervalle stets zu lang schätzen.

Doch die Störung der Zeitlichkeit in der Depression ist noch grundsätzlicher: Sie betrifft die Struktur des Erlebens von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – die Synthese unseres „inneren Zeitbewusstseins“, wie Edmund Husserl es nannte. Denn während sich die Zeit zu verlangsamen und nur noch zäh zu zerfließen scheint, dehnt sich die Gegenwart des Depressiven aus und blockiert seinen Blick auf die Zukunft. Die Unmöglichkeit, eine zukünftige Verbesserung des eigenen Zustandes zu antizipieren, ist deshalb eines der gängigsten Motive in den Erfahrungsberichten depressiver Menschen. Sie erleben ihren Zustand als zeitlos und unheilbar. Weil ihnen in der Erkrankung regelrecht ihre eigene Zukunft abhandenkommt, können sie sich nicht vorstellen, dass es ihnen jemals besser gehen wird.

Wo der Sinn für das Zukünftige verloren geht, kommt die Lebenswelt zum Stillstand. Für Betroffene bedeutet das eine existenzielle Perspektiven- und Hoffnungslosigkeit. Allein das Vergangene bleibt noch auf schmerzhafte Weise – nämlich in den für Depressionen so typischen Schuld und Reuegefühlen – präsent.

Die Zeit und ihr Vergehen, das Verstreichen ungenutzter Möglichkeiten, Verfehlungen und Versäumnisse sind der depressiven Person ständig gegenwärtig: „Ich habe mein Leben nicht genutzt, ich habe meine Zeit verschwendet“, oder wie Piet Kuiper es ausdrückt: „Das eigentliche Wesen der Zeit ist untilgbare Schuld.“

Einsam unter Fremden – Depression als Desynchronisierung

„Seltsam, im Nebel zu wandern. Leben heißt Einsamsein. Kein Mensch kennt den Andern. Jeder ist allein.“ – so schildert Hermann Hesse seine Depression in sehr einfachen und doch treffenden Zeilen. So wie das In-der-Welt-sein in der Depression seine alltägliche Selbstverständlichkeit verliert, verlieren auch menschliche Verbindungen ihre unproblematische Leichtigkeit: andere Menschen können in der Depression fremd, fern und unzugänglich erscheinen. Das Resultat ist ein Gefühl der Isolation und eine tiefe, existenzielle Einsamkeit, wie Hesse sie in seinem Gedicht beschreibt.

Eine solche Entfremdung von ihren Mitmenschen beschreibt auch Sylvia Plath, die in ihrer Depression andere Menschen nicht mehr als Personen, sondern als leblose Puppen wahrnimmt: 

„Dann glitt mein Blick über die Leute hinweg zu dem strahlenden Grün, jenseits der durchsichtigen Vorhänge, und es kam mir vor, als säße ich im Schaufenster eines riesigen Kaufhauses. Die Gestalten ringsum waren keine Menschen, sondern Schaufensterpuppen, wie Menschen geschminkt und aufgestellt in Haltungen, die Leben vortäuschen.“

Die Störung dessen, was in der Phänomenologie Intersubjektivität genannt wird, ist untrennbar mit den Veränderungen von Leib- und Zeiterleben in der Depression verknüpft. Zum einen ist es der korporifizierte Leib, der als Hindernis in der Interaktion mit Anderen erlebt wird – hier ist die für die emotionale Wahrnehmung so essenzielle zwischenleibliche Resonanz beeinträchtigt.

Zum anderen führt das veränderte Zeiterleben zu einer Abkoppelung, einer Desynchronisierung, des Depressiven von seiner sozialen Umwelt. Die alltägliche Synchronisierung zwischen Eigenzeit und sozialer Zeit (Termine, Tagesrythmen, wechselseitige Verpflichtungen und Absprachen) funktioniert nicht mehr: Der Depressive fällt aus der gemeinsamen Zeit heraus. Besonders schmerzhaft erlebt er sein eigenes Zurückbleiben im Kontrast zu seiner Umwelt: Feste, der Wechsel der Jahreszeiten, berufliche Erfolge oder familiäre Veränderungen anderer Menschen. 

Das Gefühl, das eigene Leben komme zum Erliegen, während die Menschen um einen herum ihr Leben wie gewohnt weiterleben, führt schließlich zu einem regelrechten Unvermögen, an Interaktionen mit anderen Menschen emotional teilzunehmen. Die Folge ist ein Teufelskreis aus Einsamkeit und Isolation, aus sozialem Rückzug und Beziehungsabbrüchen.

Der Freiheit beraubt – Depression als Handlungsstörung

„Das Gegenteil von Depression ist nicht Glück, sondern Vitalität“, erklärt der Schriftsteller und Journalist Andrew Solomon in einem bewegenden Vortrag über seine eigene Depressionserfahrung. In der Depression kann selbst die alltägliche Routine zur Anstrengung werden und auch die scheinbar leichteste Tätigkeit kostet jede Menge Energie und Überwindung. Betroffene klagen über chronische Erschöpfung, über Lethargie und Gefühle der Passivität und Ohnmacht. In sehr schweren Fällen kann es gar zu einem depressiven Stupor, einem Zustand der Starre oder Lähmung, kommen, bei dem die betroffene Person kaum mehr zur Bewegung fähig ist und kaum mehr auf Umweltreize reagiert. Dieser Vitalitätsverlust ist nicht bloß ein Mangel an Antrieb – er bedeutet auch einen Mangel an Freiheit, eine massive Einschränkung des freiheitlichen „Sich-Verhalten-Könnens“.

Nach dem französischen Existenzialisten Jean-Paul Sartre dürfen wir uns die Erfahrung menschlicher Willensfreiheit nicht wie ein inneres Gefühl oder Potential vorstellen, das eine Handlung begleitet. Freies Wollen findet nicht in unserem Kopf statt – es ist immer schon eingebettet in die Lebenswelt und erscheint uns in unserer Umwelt. Anders formuliert: Freiheit ist eine Art, die Welt zu erfahren. Die Erfahrung von Freiheit besteht darin, dass wir in der Lebenswelt verschiedenen Möglichkeiten der praktischen und bedeutungsvollen Lebensweltzuwendung begegnen.

Wir erfahren unsere vertraute Lebenswelt nicht als Ansammlung von indifferenten physikalischen Objekten oder nackten Tatsachen, sondern als einen allgegenwärtigen Raum von Möglichkeiten, zu dem wir uns immer schon verhalten und in dem wir uns orientieren. Die Gegenstände unserer Erfahrung ziehen uns an, machen uns neugierig, laden uns ein, uns zu ihnen zu verhalten, stoßen uns ab, geben versprechen oder fordern uns auf, zu handeln. 

Die Veränderung der Lebenswelt depressiver Menschen – das Gefühl der Isolation, Entfremdung und des Abgeschnittenseins – bedeutet einen gravierenden Verlust von Möglichkeiten des freiheitlichen Weltbezuges. Die Krankheit gibt gewissermaßen vor, für welche Arten von Möglichkeiten, der Erkrankte überhaupt noch empfänglich ist. So entschwindet die Freiheit aus der Lebenswelt. Der Möglichkeitsraum des Depressiven, sein Horizont, schrumpft in sich zusammen und das „Ich kann nicht“ wird zur dominierenden Erfahrung.

In einer Welt, in der einem nichts mehr als bedeutungsvoll, als praktisch relevant, als zugänglich oder verlockend erscheint, fordert auch nichts mehr zum Handeln auf. Mit Recht kann man deshalb von der Depression als einer Krankheit der Freiheit sprechen.

Bin ich meine Depression? Psychische Erkrankung als existenzielle Krise

Eine Frage, die psychisch Erkrankte und deren Angehörige gleichermaßen umtreibt, ist die Frage, ob und wie die Erkrankung sauber von dem getrennt werden kann, was wir gemeinhin Charakter oder Persönlichkeit nennen. Wenn eine auf der Störung des Hirnstoffwechsels basierende Krankheit meine Sicht auf die Welt und andere Menschen, mein Fühlen und mein Handeln so fundamental beeinflussen kann: Wer bin ich dann?

Dieser Gedanke kann furchtbar beängstigend sein – er kann eine existenzielle Krise bedeuten. Ein berühmter Slogan einer US-amerikanischen Mental-Health-Organisation antwortet auf diese Frage mit: „Depression is a flaw in chemistry, not in character.“ Ohne Zweifel kann eine solche naturalistische Externalisierung der Erkrankung eine entlastende Wirkung haben und zur Entstigmatisierung von psychischen Erkrankungen beitragen. Schließlich entzieht sich eine schwere Depression ganz eindeutig der Selbstdisziplin und Willensstärke der Betroffenen – sie ist kein selbstverschuldeter Zustand.

Doch die phänomenologische Untersuchung schwerer Depressionen zeigt uns auch, wie unzureichend ein solcher Slogan ist. Das Erbarmungslose an der Depression ist gerade, dass sie die Lebenswirklichkeit eines Menschen formt und somit untrennbar mit seinem Selbst, seiner Existenz, verbunden ist. Sie gibt vor, für welche Emotionen er empfänglich ist, sie vernebelt seine Zukunft, schneidet ihn von seiner Umwelt und anderen Menschen ab, lähmt seinen Körper und schwächt seinen Willen.

Wer verstehen will, wie es sich anfühlt, depressiv zu sein, muss deshalb tiefer blicken, als es in der klinischen Psychologie und Psychiatrie üblich ist. Die Depression spielt sich nicht in einem privaten, psychischen Innenraum des Betroffenen ab – sie ist eine Lebenswelt, die es zu erforschen gilt.

Piet Kuiper, der niederländische Professor, der vom Psychiater zum Patienten wurde, gab nach seiner langwierigen Genesung seinen Beruf als Psychiater auf und schrieb seine Krankheitsgeschichte nieder. Sein Buch „Seelenfinsternis: Die Depression eines Psychiaters“ wurde zum Bestseller.

Der ehemalige Professor Kuiper half damit auf eine sehr andere Art, zu einem besseren Verständnis dessen beizutragen, was ein Mensch in der Depression erleidet: Mit einer Art von empathischen Verstehen, das helfen kann, die Sprachlosigkeit zu lindern, unter denen so viele Betroffene leiden. Und so, wie die Erfahrungsberichte von Menschen mit Depressionen eine große Erleichterung für andere Betroffene bedeuten können, weil sie verstehen, dass sie mit ihrem Leid nicht alleine sind. Oder wie die Kunst seelisches Leid sinnlich erfahrbar machen kann, so kann auch die philosophische Tradition der Phänomenologie ein tieferes Verständnis dieser Krankheit ermöglichen.