Die Neunzigerjahre sind der Deutschen neue Lieblings-Sehnsuchtszeit. Liegt das wirklich am Eurodance und den klobigen Plateau-Schuhen? Oder offenbart sich hier die nostalgische Verklärung einer Zeit, in der die Weltpolitik noch eindeutig und die ideologischen Grabenkämpfe ausgetragen schienen – eine Sehnsucht nach dem Apolitischen?
Es war der vorläufige Höhepunkt einer anhaltenden Welle von Neunzigerjahre Comebacks. 60.000 Menschen feierten im März auf Schalke das „Who is Who“ des 90er-Pops – die bisher größte 90er-Party der Welt. Blümchen („Boomerang“), die Vengaboys („We’re Going to Ibiza“), Dr. Alban („It’s My Life“), Mr. President („Coco Jambo“), Oli P. („Flugzeuge im Bauch“) und als Headliner der Mann, dem gerne scherzhaft nachgesagt wird, die Berliner Mauer niedergesungen und so das letzte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts eingeleitet zu haben: David Hasselhoff.
30 Jahre nach dem Mauerfall, der Erfindung des World Wide Webs und dem ersten Erscheinen des Game Boys sind die Neunzigerjahre ganz offensichtlich zurück. Man merkt es an den vielen Boy- und Girlband Revivals, an 90er-Mottopartys und neu aufgelegten Tamagotchis oder Super Nintendos. Daran, dass Pokémon, Plateausohlen, 90er-Kultserien, Disney Filme und selbst die Diddl-Maus ihr Revival feiern. Oder daran, dass Comedians wie Luke Mockridge ganze Stadien mit einem Programm füllen, das sich mit dem Satz zusammenfassen ließe: „Wisst ihr noch, die 90er?“
Der Retro-Zyklus
Woher diese Renaissance und warum gerade jetzt? Die naheliegende Erklärung: Wer seine Kindheit in den Neunzigern erlebt hat, ist heute alt genug, um selbst als Comedian, Produzentin oder Label-Chefin zu arbeiten. Die Kinder von einst produzieren Shows, Musik und Filme – inspiriert von der Ära, die sie maßgeblich geprägt hat. Ein solcher 20 bis 30-jähriger Retro-Zyklus, der ein Jahrzehnt nach einem Vierteljahrhundert wiederaufleben lässt, ist nichts Ungewöhnliches.
Doch auch wenn sich so etwas schwer messen lässt: Das 90er-Comeback könnte größer sein als alle bisherigen Retro-Wellen. Die Millennials – also die heute 22- bis 38-Jährigen – scheinen sich durch einen äußerst ausgeprägten Hang zur Nostalgie auszuzeichnen. Eine Nostalgie, die mit Vorliebe online zelebriert wird: Mit Buzzfeed-Artikeln à la „Welcher Dawson’s Creek Charakter bist Du?“, oder mit 90er-Memes auf Facebook, die sich anbiedern mit „Liken, wenn Ihr das hier noch kennt!“.
Diese Obsession mit der eigenen Kindheit passt zur oft diagnostizierten prolongierten Adoleszenzkrise – dem „PeterPanismus“ einer ganzen Generation, die ihr Erwachsenwerden bis jenseits der 30 hinauszögert. Hinzu kommt, dass sich die Nostalgie im digitalen Zeitalter nicht mehr auf die Erinnerung an vergangene Tage verlassen muss, sondern eine ganz neue Form der Zugänglichkeit erreicht: Auf YouTube kann man sich mit ein paar Klicks jederzeit ganze Super-RTL-Werbeblocks voller 90er-Spielzeug anschauen. Aufgenommen mit VHS, hochgeladen ins Netz – bezeichnend für eine Generation, die wie keine andere durch den Übergang vom analogen auf das digitale Zeitalter geprägt wurde.
Ein Jahrzehnt mit zwölf Jahren
Wer die Nostalgie der Millennials wirklich verstehen will, muss verstehen, wie uns die Neunzigerjahre als Sehnsuchtszeit im kollektiven Gedächtnis geblieben sind. Nämlich als ein Jahrzehnt, in dem die großen Fragen der Geschichte geklärt schienen, in dem man sich sicher wägte, wo die Reise hingehen würde.
Man kann die Neunziger als ein Jahrzehnt mit zwölf Jahren bezeichnen. Nach dieser Zeitrechnung beginnen sie mit dem Mauerfall am 9.11.1989 und enden mit dem Einsturz der Zwillingstürme am 11.09.2001. Dazwischen liegt eine Ära, die der US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama in einem weltberühmten Essay nicht ganz unbescheiden als das „Ende der Geschichte“ deutete.
Fukuyama meinte, mit dem Fall der Mauer – mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Ende des ideologischen Kampfes zwischen Ost und West – hätte der dialektische Lauf der Geschichte sein Ende gefunden. Der wirtschaftliche und politische Liberalismus hat gesiegt und die großen ideologischen Konflikte seien vorüber. Totalitäre Systeme – Kommunismus, Faschismus oder Fundamentalismus – die dem Grundgedanken der liberalen Demokratie und dem Versprechen von Freiheit, Gleichheit und sozialer Anerkennung widersprechen, hätten ausgedient. Es würde also immer so weitergehen, immer mehr Menschen würden weltweit in den Genuss sozialmarktwirtschaftlicher Demokratie kommen.
Diese einflussreiche These stieß zwar schon in den Neunzigern auf viel Kritik, sie traf aber zweifellos den hoffnungsvollen Zeitgeist dieses Jahrzehnts, zumindest in der westlichen Welt. Mit 20 Jahren Abstand können wir sagen: Fukuyama hat sich geirrt, wie sich noch jeder Prophet eines teleologischen Geschichtsverlaufs geirrt hat. So bildeten für viele die Terroranschläge vom 11. September das Ende von zwölf Jahren Geschichts- und Politikoptimismus. Die Geschichte war zurück (bzw. nie weg gewesen) und der sich ausbreitende religiöse Fanatismus in der islamischen Welt, die Finanzkrise von 2008, die Rückkehr rechtspopulistischer Bewegungen oder die globale Klimakrise machten es unmöglich, dies zu leugnen.
Nostalgie als Eskapismus
Nostalgie ist immer auch eine Form des Eskapismus. Und wie sich zeigt, eignet sich der optimistische Zeitgeist der Neunziger ganz hervorragend zur Gegenwarts-Flucht. Das gilt insbesondere für eine westliche Generation, der in ihrer Kindheit ein postideologisches Zeitalter versprochen wurde. Eine Generation, auf die nun das elterliche Versprechen von „Ihr werdet es mal besser haben als wir“ nicht mehr ohne Weiteres zutrifft. Eine Generation, die miterlebt hat, wie das Internet in seiner Anfangszeit als große Demokratisierungs-Maschine gefeiert wurde, und jetzt tief enttäuscht ist, wenn sie sich durch die Kommentarspalten der sozialen Medien klickt.
Spätestens seit Trump, dem Brexit oder dem steigenden Bewusstsein für die globale Klimakrise merkt auch die Generation Y, dass sie es sich nicht mehr so einfach leisten kann, unpolitisch zu sein. Weil das anstrengend ist, sehnt sie sich nach einer Zeit, als die Dinge noch so einfach und unbeschwert schienen. Nach einer Zeit, in der alles zu Pop wurde, nach den inhaltsleeren Refrains der Eurodance-Songs, nach grellen und bunten Farben und überdimensionalen Markenlogos. Kurz: nach dem Optimistischen, dem Hedonistischen, dem Apolitischen. Nach einem Jahrzehnt, dessen vielleicht größte Jugendbewegung in Deutschland, die Loveparade, für Optimismus und Hedonismus, nicht aber für ein besonders ausgeprägtes politisches Bewusstsein stand.
Hätten wir nur damals schon auf Jasmin Wagner alias „Blümchen“ gehört. Die hatte schon 1996 Fukuyamas Diktum vom Ende der Geschichte widerlegt und zugleich das einstige Comeback der Neunziger (und ihr eigenes gleich mit) prophezeit, als sie sang: „Wie ein Boom, Boom, Boom, Boom, Boomerang. Komm‘ ich immer wieder bei Dir an!“