Unser Kolumnist Alexander Jendretzki hat jahrelang den Zahnarzt gemieden. Grund waren weniger die Schmerzen, als vielmehr der Moralismus im Behandlungsraum. Kann ein neuer Zahnarzt helfen? Eine Reflexion über Theologie, Wurzelbehandlungen und die Zahnteufel Karius und Baktus.

Ich bin der Herr, Dein Gott, der Dich aus Ägyptenland geführt hat: Tue Deinen Mund weit auf, lass mich ihn füllen! Psalm 81, Vers 11

Es ist nun wirklich nicht so, dass ich mir häufig über christliche Eschatologie, über die Lehre der vier letzten Dinge (TodGerichtHimmel oder Hölle), den Kopf zerbreche. Aber wenn, dann stelle ich mir das Ganze wie eine Art metaphysische Zahnarztpraxis vor. Meine Zahnarztbesuche kommen nämlich dem, was man sich volkstümlich unter dem Gericht Gottes vorstellt, recht nahe: Geblendet vom weißen Licht der OP-Leuchte liege ich ausgeliefert auf einem Behandlungsstuhl, während sich eine Person in weiß über mich beugt. Ich presse die Augen fest zusammen, öffne den Mund wie befohlen, und falte die Hände zu einem verkrampften protestantischen Gebet. Weil ich sehr wohl um meine Verfehlungen weiß, ahne ich, was mir noch droht. Und das Folterwerkzeug liegt schon in Form von Bohrern und Spritzen auf einem Metalltablett vor mir bereit.

Wahrscheinlich habe ich mir noch eine Stunde zuvor die Zähne so gründlich wie sonst nie geputzt, habe sogar Zahnseide benutzt, um den Richter in weiß zu täuschen und meine nachlässige Zahnhygiene zu kaschieren. Doch im Grunde weiß ich: Göttern und Zahnärzten entgeht nichts – nicht mein Kirchenaustritt und nicht mein Faible für Ben & Jerry’s-Eis mit Plätzchenteig und Schokostücken. Die Stimme über mir beginnt schließlich mit ihrem Richterspruch in einer kryptischen Fremdsprache: „Zwei-vier o.b., zwei-fünf f, zwei-sechs c okklusal, da machen wir mal ein dickes, dickes Ausrufezeichen dran.“ Ich spreche kein Theologisch, aber so ein „dickes, dickes Ausrufezeichen“ verheißt nichts Gutes: „Da müssen wir wohl eine Wurzelbehandlung machen!“

„Das wird jetzt unangenehm. Aber sowas kommt davon.“

Mag sein, dass ich übertreibe. Mein Verhältnis zu Zahnärzten ist nun mal nicht das beste. Ich habe jahrelang den Zahnarzt gemieden, nicht gut auf mich geachtet und meine Zähne vernachlässigt. Habe einmal zu oft vor dem Schlafengehen noch Eis im Bett gegessen, ohne mir danach die Zähne zu putzen. Habe die Schmerzen eines absterbenden Backenzahnes ignoriert und einfach zwei Jahre lang nur noch auf einer Kieferseite gekaut. Meine Zahnprobleme sind eine ständige Erinnerung daran, dass ich mein Leben offenbar nicht im Griff habe.

Diese Zahnarztangst liegt nur zu einem Teil an meinem durchaus ausgeprägten Talent, Probleme zu ignorieren, bis sie mir regelrecht stückeweise aus dem Mund fallen. Und an den Schmerzen kann es eigentlich auch nicht liegen. Die Vibrationen, die Geräusche und der Geschmack – alles echt unangenehm. Aber ein Zahnarztbesuch kann heute weitestgehend schmerzfrei ablaufen. Ich vermute vielmehr, mein Vermeidungsverhalten hat etwas mit dem Moralismus in der Zahnarztpraxis zu tun. Denn kein anderer Arztbesuch läuft so moralisch ab wie ein schlechter Zahnarztbesuch.

Das wurde mir bei meinem vorletzten Zahnarztbesuch einmal mehr vor Augen geführt. Als ich mich endlich überwunden hatte und mit meinem bröckelnden Backenzahn zum Zahnarzt ging, lautete dessen Urteil schnell: „In ihrem Alter sollte man derartige Zahnprobleme noch nicht haben“, oder, kopfschüttelnd und im vorwurfsvoll väterlichen Ton: „Das hätte man verhindern können, Herr Jendretzki“. Solch eine normativ aufgeladene Sprache kenne ich jedenfalls von meiner Hausärztin nicht. Überhaupt kenne ich wenige Orte, an denen mit einem 31-Jährigen noch so gesprochen wird. Schließlich griff der Zahnarzt nochmal ganz tief in die schwarze-Pädagogik-Kiste: „Das wird jetzt gleich unangenehm. Aber sowas kommt davon.“

Vielleicht hätte ich ihm sagen sollen, dass ich mir einen solchen Tonfall verbitte, dass derartige Moralisierungen nicht dabei helfen, mir meine Scham, meine Angst und meine Selbstvorwürfe zu nehmen. Aber da hatte ich schon einen Bohrer und einen Speichelsauger im Mund: Keine guten Bedingungen für eine Debatte über Moralpsychologie. Also ließ ich mir meinen Zahn behandeln, ging, und kam nie wieder. Irgendwann fing der nächste Backenzahn an, zu schmerzen. Ich fing an, nur noch auf der anderen Kieferseite zu kauen und mein dentaler Verdrängungszyklus begann von vorn.

Das Böse existiert – es lebt in unseren Zähnen

60 Prozent der Deutschen fühlen sich unwohl beim Zahnarzt, acht Prozent geben an, aus Angst eine zahnärztliche Behandlung ganz zu unterlassen. Hinzu kommt: Kaum ein Teil des menschlichen Körpers wird so sehr mit Scham, Schuld und Angst vor Verurteilung verbunden, wie die Zähne (gut, vielleicht die Geschlechtsorgane, aber die tragen wir ja auch nicht im Gesicht, wo sie jeder sieht, wenn wir reden oder lächeln). Dazu haben schlechte Zähne neben den gesundheitlichen auch soziale Folgen. Sie gelten noch immer als Zeichen für Alter, für mangelnde Hygiene, für sozial niedrige Stellung und gesellschaftlichen Misserfolg.

Für Viele liegt der Grund für ihre Angst vor dem Zahnarzt in der Kindheit – als die Behandlungen noch schmerzhafter und der Moralismus noch unverblümter war als heute. Ich erinnere mich noch sehr lebendig an eine zerfledderte Ausgabe von „Karius und Baktus“ im Wartezimmer der Zahnarztpraxis meiner Kindheit – ein norwegisches Kinderbuch, dass seit 1949 Kinder zum Zähneputzen animieren soll. Es geht um zwei kleine anarchische Zahnteufel, die sich im Backenzahn eines Jungen häuslich eingerichtet haben. Weil der sich selten die Zähne putzt und viel Süßes isst, können Karius und Baktus fröhlich seine Zähne mit Spitzhacke und Presslufthammer bearbeiten.

Eines der letzten Bilder des Buches sehe ich noch vor mir: Der Mund des Jungen öffnet sich über Karius und Baktus als öffne sich der Himmel über ihnen. Grelles Licht blendet sie. Da türmt sich ein gigantischer Mann in weiß über ihnen auf: der Zahnarzt. Die beiden Zahnteufel wissen gleich, dass es vor ihm kein Verstecken gibt – das ist ihr Ende. Woran ich mich nicht mehr erinnern konnte, ist das eigentliche Ende des Bilderbuchs: Karius und Baktus werden aus dem Mund gespült, landen zunächst im Ausguss und schließlich im Meer, wo sie auf einem Floß umhertreiben und darauf warten, dass sich irgendwo ein Kind nicht die Zähne putzt.

Erst jetzt wird mir klar, dass „Karius und Baktus“ in Wirklichkeit eine theologische Abhandlung über die reale Existenz des Bösen in der Welt war – darüber, dass es nur mit der Hilfe Gottes in Schach gehalten werden könne.

Die Frage nach der Existenz Gottes angesichts von Karies

Überhaupt scheint mir die Zahnarztpraxis ein ganz ausgezeichneter Ort, um über Gott und das Böse nachzudenken. Und es ist auch nur ein kleiner Gedankenschritt von Karius und Baktus zu einer der ältesten Problemfragen der Religionsgeschichte: zur Theodizee. Zur Frage nach der Existenz Gottes angesichts des Leids auf der Welt.

Wenn Gott zugleich allmächtig und allgütig ist, wieso lässt er dann all das Übel – Hunger, Krieg und Karies – auf der Welt geschehen? Wenn die Welt, in der wir leben, tatsächlich die „beste aller möglichen Welten“ ist, wie es der Philosoph Gottfried Wilhelm Leibnitz annahm, wieso gibt es dann Karius und Baktus? Diese religionsskeptische Frage ist uralt, wurde (wenn auch nicht unbedingt explizit unter Verweis auf Karies) bereits in zahlreichen Kulturen der Antike aufgeworfen und konnte doch nie zufriedenstellend beantwortet werden.

Eine gängige religiöse Erwiderung auf die Theodizee argumentiert mit der menschlichen Willensfreiheit als Quelle allen Übels. Der freie Wille beinhaltet nun mal auch die Freiheit, ohne Zähneputzen ins Bett zu gehen und auf Zahnseide zu verzichten. An meinen Zahnproblemen bin ich selbst schuld; das hat mir mein Zahnarzt unmissverständlich zu verstehen gegeben. Dagegen lässt sich leicht einwenden, dass sich mit dem Verweis auf die Willensfreiheit kein unverschuldetes Leid erklären lässt – keine schwer kranken Kinder, keine Naturkatastrophen, keine angeborene Zahnschmelzhypoplasie.

Dazu hat mich schon immer etwas anderes an dieser religiösen Erwiderung gestört: Wenn mich ein allmächtiger Gott erschaffen hat; hätte er mich nicht einfach etwas vernünftiger machen können? Ein bisschen weniger anfällig für Versuchung, Verdrängung und schlechte Angewohnheiten? Wenn Gott allwissend ist, dann muss er doch wissen, wie gut so ein Ben & Jerry’s-Eis mit Plätzchenteig und Schokostücken ist. Und wie verlockend es ist, danach einfach im Bett liegen zu bleiben. Oder hat Gott womöglich eine schlechte Menschenkenntnis, wenn er von uns fordert, was wir nicht einhalten können? Genauso wie mein letzter Zahnarzt, der offenbar nicht verstanden hat, dass er mich mit seiner Schuld-Rhetorik nur von seiner Praxis fernhält. Wie der zahnmedizinische Assistent, der nicht merkt, dass ich ihn anlüge, wenn ich bei der Prophylaxe gelobe, mir künftig dreimal täglich fünf Minuten lang die Zähne zu putzen.

Cappuccino vor der Wurzelbehandlung

Es gibt Hoffnung, dass mein dentaler Verdrängungszyklus nun sein Ende gefunden hat. Vergangene Woche bin ich mit dem nächsten bröckelnden Backenzahn zu einem neuen Zahnarzt gegangen. Es ist eine dieser Praxen, die sich über Mund-zu-Mundpropaganda unter Angst- und Scham-Patienten weiterempfohlen wird – wo viel Wert auf eine freundliche Atmosphäre und eine positive Rhetorik, auf moderne Praxisräume und möglichst wenig Desinfektionsmittel-Geruch, gelegt wird.

In dieser Praxis sind die Mitarbeiter schon morgens (fast verdächtig) gut gelaunt. Im Kinderbereich des Wartezimmers liegen allerlei Spielsachen und Malbücher, aber keine Ausgabe von „Karius und Baktus“ – was ich als gutes Zeichen deute. Ein junger Zahnarzt begrüßt mich mit Handschlag und Schulterklopfer, fragt mich, ob ich vorher noch einen Kaffee trinken mag. Ich verneine reflexhaft, schließlich schaut mir gleich noch ein Zahnarzt in den Mund. Da fällt mir ein, dass es ja der Zahnarzt war, der mich gerade gefragt hat: „Achso, doch, so einen Cappuccino würd‘ ich nehmen.“

Auf dem Behandlungsstuhl, unter dem weißen Licht der OP-Leuchte, beginne ich sofort, alles zu beichten: „Ich weiß, ich weiß, das sieht jetzt nicht gut aus. Ich war schon sehr lange nicht mehr bei der Vorsorge. Ich weiß, es hätte nie so weit kommen dürfen. Einen Zahn habe ich ja schon verloren. Aber wissen Sie: Ich bin kein großer Fan von Zahnärzten.“

„Trifft sich gut. Ich auch nicht“, unterbricht mich mein neuer Zahnarzt. Wir reden etwas über Moral in der Zahnarztpraxis, über meinen letzten Zahnarzt und mein Vermeidungsverhalten. Ich überlege kurz, ob ich ihn fragen soll, wie er zur Theodizee, zum Jüngsten Gericht und zu Ben & Jerry’s steht. Aber ich will ihn nicht zu sehr verstören – es könnte der Beginn einer längeren Beziehung sein.