Alle acht Stunden stirbt ein Mensch in Deutschland, weil kein passendes Spenderorgan zur Verfügung steht. Eine solidarische Gesellschaft darf das nicht einfach hinnehmen. Warum es an der Zeit ist, die bisherige Organspende-Regelung zu überdenken.
Mehr als 10.000 schwerstkranke Menschen stehen derzeit auf einer Warteliste für ein Spenderorgan. Die Hoffnung, ein lebensrettendes Herz, eine Lunge oder Niere einer verstorbenen Person zu erhalten, bleibt für viele von ihnen jedoch unerfüllt. Wie die Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO) dokumentiert, kamen auf eine Million Einwohner nur etwa elf Spenderinnen und Spender – eine alarmierend geringe Zahl mit tödlichen Folgen: Jedes Jahr sterben circa 1.000 Menschen, deren letzte Überlebenschance eine Organspende gewesen wäre.
Woran liegt es, dass Deutschland das europäische Schlusslicht in Sachen Organspende bildet? Wie lässt sich die Situation verbessern?
Widerspruch statt Zustimmung?
In Deutschland gilt die sogenannte Entscheidungslösung. Mit dieser Regelung kommt als Organspender zunächst nur in Frage, wer sich ausdrücklich für das Spenden ausgesprochen hat. Wurde der persönliche Wunsch zu Lebzeiten nicht in einem Organspendeausweis oder einer Patientenverfügung festgehalten, müssen die nächsten Angehörigen entscheiden, ob einer Transplantation zugestimmt wird oder nicht. Das Problem daran: Obwohl laut einer repräsentativen Studie etwa 84 Prozent der Befragten einer Organspende „eher positiv“ gegenüberstehen, haben nur 36 Prozent einen Organspendeausweis ausgefüllt. Im Zweifelsfall sind viele Angehörige im Unklaren über den Willen der Verstorbenen und lehnen nicht selten eine Transplantation ab. Die Entscheidungslösung bürdet den Hinterbliebenen damit nicht nur eine enorme Verantwortung auf, sondern begrenzt zudem den Kreis möglicher Organspender, die anderen Menschen in größter Not helfen könnten.
Eine Regelung, die der großen Spendenbereitschaft der Bevölkerung dagegen weitaus mehr entsprechen würde, ist die sogenannte Widerspruchslösung. Demnach ist jeder mündige Mensch automatisch ein potenzieller Organspender, wenn er sich zuvor nicht ausdrücklich dagegen ausgesprochen hat. In rund Dreiviertel der europäischen Länder – wie Frankreich, Österreich und Italien – wird dieses Modell bereits praktiziert. Seit vergangenem Jahr wird auch in Deutschland wieder vermehrt über die Einführung einer besonderen Variante der Widerspruchslösung diskutiert: Bei der sogenannten doppelten Widerspruchslösung können die Angehörigen ein Veto einlegen, wenn weder eine Zustimmung noch ein Widerspruch des Verstorbenen vorliegt.
Die Widerspruchslösung ist effektiv und freiheitlich
Wissenschaftliche Untersuchungen und die Erfahrungen der vergangenen Jahre haben gezeigt, dass die Widerspruchslösung durchaus positive Auswirkungen auf die Spendenbereitschaft haben kann. In den Ländern, in denen die Regelung gilt, gibt es durchschnittlich mehr Organspenden. Warum tun sich Kritiker dennoch schwer damit?
In der Diskussion wird häufig eingewendet, dass ein Zwang zum Spenden entstehen würde, der die Freiwilligkeit und Selbstbestimmung der Bürgerinnen und Bürger einschränkt. Tatsächlich aber kann von „Zwang“ keine Rede sein. Niemand wird verpflichtet, ein Organ nach dem Tod zur Verfügung zu stellen. Die eigene Verweigerung kann nämlich – genauso wie die Zustimmung – jederzeit frei und ohne größere Umstände erklärt werden. Eine Begründung wird dabei nicht abverlangt. Die Widerspruchslösung nimmt uns also die Entscheidung nicht ab, konfrontiert uns aber mehr als zuvor mit unserer Entscheidungsfreiheit.
Zweifellos wäre es wichtig, stärker als bisher über die Hintergründe und den Ablauf einer Organspende zu informieren. Denn eine selbstbestimmte Entscheidung für oder gegen eine Spende setzt Wissen voraus. Da mit der Widerspruchsregelung jeder automatisch als potenzieller Spender gilt, steht nicht nur jeder Einzelne in der Verantwortung, sich zeitlebens mit der Organspende auseinanderzusetzen. Auch dem Staat kommt damit eine Pflicht zur Aufklärung – zu regelmäßigen Umfragen und zur Informationsvermittlung – zu. Nur so kann gewährleistet werden, dass der Wunsch jedes Einzelnen respektiert und niemand wider Willen zum Organspender wird.
Die Widerspruchslösung ist mit der Menschenwürde vereinbar
Weitere Bedenken gegen die Widerspruchslösung betreffen die Organspende selbst. Kritiker sehen die Würde des Menschen in Gefahr, da Verstorbene als „Ersatzteillager“ degradiert und instrumentalisiert werden könnten. Doch was sollte an der Entnahme von Organen verwerflich sein, wenn sie nicht gegen den Willen des Spenders verstößt? Ob etwas die Menschenwürde verletzt, hängt in erster Linie von der persönlichen Würdevorstellung jedes Einzelnen ab. Diese zu achten und vor Fremdbestimmung zu schützen, ist das oberste Gebot – auch über den Tod hinaus. Dabei kann das Spenden der eigenen Organe – das Retten eines Lebens nach Ende des eigenen – sehr wohl eine würdevolle Geste sein: als Akt menschlicher Solidarität, als Sinnstiftung gegen die Sinnlosigkeit des Todes oder als Trost für die Hinterbliebenen.
Die Widerspruchsregelung erinnert daran, dass jeder von uns irgendwann auf die Spendenbereitschaft anderer angewiesen sein könnte. Vor einem unerwarteten Unfall schützt selbst die gesündeste Lebensführung nicht. Sich mit dem eigenen Sterben auseinanderzusetzen mag unangenehm sein – das aufschieben zu wollen ist allzu verständlich. Doch wer im Falle einer Krankheit auf die Hilfe anderer hofft, von dem darf auch erwartet werden, sich diesem Thema einmal zu stellen.
Auch als Gesellschaft sollten wir bedenken, dass Deutschland derzeit von der Umsetzung der Widerspruchsregelung in anderen Ländern profitiert: Seit einigen Jahren werden mehr Organe aus dem Ausland importiert als abgegeben. Das ist nicht nur inkonsequent, sondern verschlechtert auch die Transplantationschancen von Patienten auf den ausländischen Wartelisten.
Die Widerspruchslösung ist kein Allheilmittel
Obwohl es also gute Gründe für eine Reform der Organspende gibt, sollten sich die Befürworter der Widerspruchslösung keinen Illusionen hingeben. Jährlich sterben etwa 930.000 Menschen in Deutschland. Nur rund 1.200 von ihnen erfüllen die ersten Kriterien für eine Organspende, bei der vor dem Herzversagen zuerst der Hirntot auf einer Intensivstation festgestellt und gemeldet werden muss. Dass nur wenige Organe in einem solchen Fall zur Spende bereitstehen, liegt darüber hinaus an strukturellen Missständen in den Kliniken. Organtransplantationen sind nämlich mit einem enormen organisatorischen und finanziellen Aufwand verbunden, den viele Krankenhäuser vermeiden wollen.
Letztlich dreht sich also auch dieses Thema um die Frage nach einem grundlegenden Ausbau des Gesundheitssystems. Statt sich bloß am reinen Profit zu orientieren, sollte es die Interessen und Bedürfnisse der Menschen im Blick haben. Für eine echte Verbesserung der Organspende, braucht es daher verschiedene Maßnahmen. Diese gegeneinander auszuspielen, wäre ein fataler Fehler.
Das Wichtigste zur Organspende im Überblick