Das Leben ist eine kosmische Lotterie – ein Zusammenspiel von zufälligen Faktoren bestimmt über unsere individuellen Aussichten auf Erfolg. Kein Grund zu Stolz oder Scham, meint Philosoph und Autor Michael Schmidt-Salomon und plädiert für mehr Gelassenheit. Wir veröffentlichen einen Auszug aus dem ersten Kapitel seines neuen Buches „Entspannt euch! Eine Philosophie der Gelassenheit“.
In der christlichen Tradition galt der Stolz als die erste der sieben Todsünden, gewissermaßen als Wurzel allen Übels. Und auch in der antiken Philosophie hatte er keinen guten Ruf. Im Unterschied zu den christlichen Theologen störte es die griechischen und römischen Philosophen allerdings nicht, dass unser Hochmut eine Beleidigung „des Schöpfers“ sein könnte. Sie sahen im Stolz bloß eine schlechte Strategie, das Leben in den Griff zu bekommen. Warum? Ganz einfach: Weil alles, worauf wir uns irgendetwas einbilden könnten, über kurz oder lang verschwunden sein wird, weshalb wir uns beim besten Willen nicht daran klammern sollten. Hochmut kommt vor dem Fall.
Wer wollte dies auch bestreiten? Tatsächlich sind alle Eigenschaften, auf die wir in unserem Leben stolz sein könnten, nur von kurzer Dauer. Schönheit beispielsweise ist ebenso vergänglich wie Sportlichkeit oder intellektuelle Brillanz. Und genau hier liegt das Problem, denn: Je stolzer du auf die Qualitäten bist, über die du heute verfügst, desto größer wird deine Scham sein, wenn sie dir verloren gehen.
Aber nicht nur deshalb zeugt Hochmut nicht gerade von Lebensweisheit. Die siamesischen Zwillinge Stolz und Scham sind auch bestens geeignet, unser Verhältnis zu den Mitmenschen zu vergiften. Warum? Weil Scham sehr schnell Neid gebiert und Stolz Überheblichkeit. Wir sind eifersüchtig auf diejenigen, die schöner, klüger, erfolgreicher sind als wir, und strafen jene mit Verachtung, die es im Leben nicht so weit gebracht haben wie wir selbst mit unserem „ach so grandiosen Ich“.
Dies führt zu schweren sozialen Verwerfungen und öffentlichen Demütigungen. Es zwingt uns dazu, an einem unaufhörlichen Überbietungswettbewerb teilzunehmen, bei dem man stets auf der Hut sein muss, nicht selbst zum Opfer von Neid und Missgunst zu werden. Ein kluges Rezept für ein gutes Leben ist dies zweifellos nicht. Und doch haben all die gut gemeinten Ratschläge, all die eindringlichen Warnungen vor der „Todsünde des Stolzes“ über die Jahrhunderte hinweg nur wenig ausrichten können. Noch immer sind wir hin- und hergeworfen zwischen grenzenloser Selbstüberschätzung und maßloser Selbstzerknirschung. Woran liegt das?
Abschied vom „grandiosen Ich“
Der Kern des Problems besteht darin, dass wir das Wechselspiel von Überheblichkeit und Demütigung so lange nicht überwinden werden, solange wir an den althergebrachten Überzeugungen festhalten, welche besagen, dass wir zu Recht stolz auf eigene Leistungen sein können, und uns zu Recht dafür schämen müssten, wenn wir diese Leistungen nicht erbringen.
Genau hier liegt aber ein fundamentaler Denkfehler – und wenn du ihn als solchen erkennst, bist du schon ein gutes Stück weiter auf dem Weg zu größerer Gelassenheit. Denn wir erleben die Gefühle von Stolz und Scham nur deshalb, weil wir die Gründe für unseren Erfolg oder Misserfolg uns selbst zuschreiben. Doch diese Zuschreibung beruht auf einer Illusion. Je genauer wir nämlich hinschauen, desto klarer erkennen wir, dass die Ursachen für unsere Siege und Niederlagen, für unsere Qualitäten und Mängel, keineswegs in unserem „grandiosen“ oder „kläglichen“ Selbst zu finden sind, sondern in einem chaotischen Netzwerk von Milliarden und Abermilliarden Faktoren, über die wir keine Kontrolle hatten.
Wenn man diese kausalen Zusammenhänge in ihrer Tiefendimension begreift (wie es Albert Einstein getan hat) so nimmt dies viel von der Dramatik, die wir gemeinhin erleben, wenn wir an einer Aufgabe scheitern. Mehr noch: Es gibt unserem seltsamen Verhalten, bei positiven Erlebnissen mit stolzgeschwellter Brust durch die Welt zu marschieren und bei negativen schamhaft in uns zusammenzusacken, eine geradezu komische Note.
Wer stolz auf seine Intelligenz ist, der kann so klug nicht sein
Schauen wir uns dies an einem einfachen Beispiel an: Viele Menschen sind stolz auf ihr gutes Aussehen, bilden sich also etwas darauf ein, in punkto Schönheit besser abzuschneiden als andere. Nun wissen wir aber, dass Schönheit über weite Strecken nichts weiter ist als das Produkt der zufälligen Kombination von Erbmerkmalen beim Verschmelzen einer Samenzelle mit einer Eizelle. Gutes Aussehen geht also maßgeblich auf ein Ereignis zurück, das zu einem Zeitpunkt stattgefunden hat, als das „stolze Ich“ längst noch nicht existierte. Macht man sich dies bewusst, wird klar, dass Stolz auf die eigene Schönheit vor allem eines ist: lächerlich. Da niemand etwas dafür kann, welche Erbinformationen bei seiner Entstehung zufällig aufeinandertrafen, ist es einfach grotesk, sich irgendetwas auf das eigene Aussehen einzubilden.
Das gilt allerdings auch für andere hochgeschätzte Merkmale, etwa für unsere Intelligenz: Auch die Fähigkeit zu intellektuellen Leistungen ist zu einem großen Teil von der zufälligen Mischung von Erbmerkmalen abhängig. Manche Menschen können sich anstrengen, so viel sie wollen, schwierige Zusammenhänge werden sie nie verstehen. Anderen hingegen fällt das Lösen komplexester Gleichungen in den Schoß. Doch wie könnten sie darauf „stolz“ sein?! Schließlich gab es ihr Ich noch nicht, als die Voraussetzungen für ihre Fähigkeiten gelegt wurden. Und das bringt mich zu einer etwas paradox klingenden Schlussfolgerung: Wer tatsächlich meint, sich etwas auf seine Klugheit einbilden zu müssen, zeigt damit nur, dass er so klug gar nicht ist. Stolz auf Intelligenz ist kein Zeichen von Intelligenz.
Um nicht missverstanden zu werden: Ich behaupte keineswegs, dass wir bloß „Marionetten unserer Gene“ sind. Wer wir sind und was wir können, ist selbstverständlich nicht allein unseren Erbanlagen geschuldet, sondern auch den Erfahrungen, die wir in unserem Leben gemacht haben. Doch auch diese haben wir uns nicht freiwillig ausgesucht. Wir hatten keine Kontrolle darüber, in welche Zeit, in welche Kultur, in welche Gesellschaft, in welches Milieu oder in welche Familie wir hineingeboren wurden. Wir hatten keinen Einfluss darauf, ob man uns als Kinder gefördert oder vernachlässigt, ob man uns als eigenständige Wesen respektiert oder zu Befehlsempfängern degradiert, ob man unsere Neugier genährt oder durch Denkverbote abgetötet hat.
„Mit anderen Anlagen und anderen Erfahrungen wären wir andere Menschen mit anderen Eigenschaften“
Wir machen uns viel zu selten bewusst, wie sehr unsere individuellen Eigenschaften von solchen zufälligen Faktoren bestimmt sind – und wie leicht es hätte anders kommen können: Schon ein kurzer Sauerstoffmangel bei meiner Geburt hätte dafür gesorgt, dass ich keine Bücher schreiben, sondern Kugelschreiber in einer Behindertenwerkstatt zusammenschrauben würde. Eine andere Familie oder ein anderer Freundeskreis hätten womöglich schon genügt – und ich würde heute nicht auf Vortragsreisen gehen, sondern eine langjährige Haftstrafe als Mörder verbüßen.
Fakt ist: Mit anderen Anlagen und anderen Erfahrungen wären wir andere Menschen mit anderen Eigenschaften. Wenn du also in deiner persönlichen Lebensbilanz zu einem positiven Ergebnis kommst, wenn du über Eigenschaften verfügst, die andere an dir wertschätzen, so hast du allen Grund dazu, dich darüber zu freuen. Aber bilde dir bitte nichts darauf ein! Sei vielmehr dankbar für die unüberschaubare Kette von Faktoren, die dich in deine jetzige, komfortable Lage gebracht haben – statt ins Gefängnis, die Psychiatrie oder in eines der vielen Elendsquartiere dieser Welt.
Wie sehr man dich auch dafür loben mag, der zu sein, der du bist, und das zu können, was du kannst, hebe nicht ab, sei bescheiden! Denn letztlich bleibt es dabei: Das Leben ist ein Glücksspiel, eine Lotterie, bei der einige von uns ein Traumlos ziehen, während es andere übel trifft. Wer sich darauf etwas einbildet, hat nur wenig vom Leben begriffen.