Soll man gegenüber unliebsamen Meinungen grundsätzlich tolerant sein? Nein, sagt Christoph David Piorkowski. Toleranz braucht Grenzen. Sie funktioniert nur dort, wo es neben dem Trennenden auch Gemeinsames gibt.
Einer meiner ältesten Freunde, nennen wir ihn Paul, ist gemäßigter Anhänger einer irrlichternden Glaubensgemeinschaft. Freier Markt, Trickle Down, Unsichtbare Hand – Paul hält den gefährlichen Axiomen und falschen Mythen der neoliberalen Religion mehrheitlich die Stange. Allen sozialen und ökologischen Verheerungen zum Trotz. Allein: wo ich ihm eine zutiefst bürgerliche Marktgläubigkeit unterstelle, betrachtet er mich als regulierungswütigen Traumtänzer.
Merkwürdigerweise aber gelingt es mir trotzdem, ihn seit paarundzwanzig Jahren zu ertragen, ja mehr noch, ich schätze und respektiere ihn, auch mit seinen schwierigen Meinungen. Seit der Grundschule schreien wir uns regelmäßig an. (Früher freilich aus anderen Gründen als heute.) Dann vertragen wir uns, einigen uns darauf, wieder nicht einer Meinung zu sein, und üben uns darin, die Position des jeweils anderen zu dulden.
Der normative Minimalkonsens
In jüngster Zeit hört man immer wieder, Demokraten müssten Schmerzkünstler sein und sollten wahre Toleranz gegenüber unliebsamen Meinungen pflegen. Ist das wahr? Und müsste der Autor dieser Zeilen dem nicht zustimmen, wenn er den neoliberalen Paul nicht nur erträgt, sondern gar mit ihm befreundet ist? Eben nicht. Denn die Toleranz gegenüber dem gerade noch bzw. kaum mehr Erträglichen, ist nur deshalb möglich, weil sie eine unbedingte Grenze kennt. Und diese beginnt nicht erst dort, wo dem Gesetz nach eine eindeutige Straftat vorliegt.
So kann ich dem marktradikalen Bullshit meines Freundes gegenüber nur tolerant sein, weil es unterhalb der Unstimmigkeiten letztlich doch ein einigendes Fundament gibt. Diese Basis besteht nur zum Teil aus gemeinsamem Humor und gemeinsamen Erfahrungswelten. Ein zentraler Grund, warum wir trotz allem miteinander können, ist ein normativer Minimalkonsens, der den Dissens in den höheren Lagen gleichsam überwölbt.
So mag mein Freund Paul zwar glauben, dass der Freie Markt die beste aller möglichen Gesellschaften zeitigt. Schlimm genug. Niemals aber würde er zum Beispiel rassistischen oder antisemitischen Positionen auch nur im Ansatz das Wort reden. Paul und ich unterhalten, mit der Philosophin Chantal Mouffe gesprochen, einen konfliktualen Konsens, stehen uns in einem heftig umkämpften Diskursfeld als Gegner gegenüber. Wir haben unterschiedliche Auffassungen darüber, wie Gesellschaft strukturiert sein sollte. Für uns beide aber hat die Würde des Menschen nichts mit Herkunft oder Religion, Geschlecht oder sexuellen Vorlieben zu tun. Meinem Gegner kann ich trotz, nein vielmehr wegen unserer Meinungsverschiedenheiten, tolerant begegnen, mit meinem Gegner kann ich Bier trinken und heftig diskutieren, mein Gegner und ich können, auch wenn es manchmal schwierig ist, doch ziemlich beste Freunde sein. So könnte man das Verhältnis von Paul und mir in politischer Hinsicht, abermals mit Chantal Mouffe, eben nicht als antagonistisch, sondern als agonistisch bezeichnen. Wir wollen und werden es niemals hinkriegen, unsere verschiedenen Haltungen in einem harmonischen Konsens zusammenzuführen. Und doch teilen wir einen gemeinsamen symbolischen Raum, und erkennen innerhalb dieser von Konflikten und Gegensätzen durchwirkten demokratischen Sphäre die Legitimität unseres Gegners an.
Gegner oder Feind?
Jenseits dieses Raums aber, der den Gegner, wie gesagt, miteinschließt, findet sich leider, hässliches Wort, nach wie vor der Feind. Anders als mit meinem Gegner, kann ich mit meinem Feind nicht nur nicht befreundet sein. Ich darf seiner Position gegenüber kein Quantum Toleranz zeigen. So problematisch dieses Postulat auch klingen mag, hat es doch Gültigkeit, wenn es sich beim Feind um Faschisten, Rassisten, Antisemiten, etc., kurz: Menschenhasser aller Couleur handelt.
Beim in jüngster Zeit viel beklagten Riss durch die Gesellschaft geht es häufig nicht bloß um unterschiedliche Auffassungen zur Zuwanderungspolitik, die sich gegenseitig, auch wenn sie einander nicht sympathisch sind, letztlich doch tolerieren können. Dort, wo es bloß darum geht, gibt es keinen Riss, sondern politischen Streit im Sinne einer toleranten Gegnerschaft.
Jener Riss aber ist längst vollzogen, wo ein André Poggenburg türkischstämmige Mitbürger als „Kameltreiber“ und „Kümmelhändler“ tituliert, für die in seinem Deutschland kein Platz sei. Wo ein Björn Höcke das Holocaustmahnmal als Schande bezeichnet und antisemitische Stimmungen schürt. Wo ein Alexander Gauland Muslime diffamiert, und die Staatsministerin Aydan Özoğuz in Anatolien entsorgen will. Wo der österreichische Innenminister Herbert Kickl (FPÖ) dazu rät, „Flüchtlinge zu konzentrieren“.
Solche Aussagen und die manifesten Haltungen in ihnen, kann, will, muss und darf man nicht ertragen. Auch dann nicht, wenn sie weniger rabiat daherkommen, als in obigen Beispielen, weil die Sprecher aus taktischen Gründen vorübergehend Kreide fressen.
No Pasarán!
Das Grundgesetz verdeutlicht die genannte Grenze zwischen dem, was gerade noch geht und dem was eben nicht mehr geht, unter anderem durch die prominente Unterscheidung von Meinungsfreiheit und Volksverhetzung. Für das, was ein Mensch ertragen muss, kann die rechtliche Grundlage aber bloß als regulative Idee fungieren. Denn die Frage, wo die Grenze in persönlicher Hinsicht überschritten ist, muss nicht zwangsläufig mit der juristischen Grenze übereinstimmen. So kann es mein gutes Recht sein, etwas nicht ertragen zu wollen, was durch die Meinungsfreiheit gerade noch gedeckt wäre.
Als Verwandter von Holocaustüberlebenden bringe ich für Antisemitismus keinen Funken Toleranz auf, auch dann nicht, wenn er mir in winzigen Dosen begegnet. Als Deutscher und damit Angehöriger einer Nation, die als gigantischer Flüchtlingsproduzent in die Geschichte einging, bin ich nicht bereit, Haltungen zu akzeptieren, die ob fremdenfeindlicher Ressentiments das Asylrecht torpedieren.
Ist halt meine Meinung?
Ganz nebenbei sind antisemitisches oder muslimfeindliches Gewäsch ohnehin keine Meinungen im klassischen Sinn. Nicht die Erfahrung schafft das Bild vom Juden, schrieb Sartre einst, sondern das Vorurteil fälscht die Erfahrung. Ressentiments führen zu Bestätigungsfehlern und induktiven Fehlschlüssen, die keine Meinungen bewirken, sondern falsche Behauptungen, also das, was man neuerdings als Fake News bezeichnet. Wenn aus zehn kriminellen Migranten, somit „der kriminelle Migrant“ gemacht wird, darf man keine Toleranz zeigen. Was man hier tolerieren würde – „der Hans findet nun mal, dass Migranten kriminell sind“ – wäre keine Meinung, die auf Tatsachen gründet, sondern gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit.
Wer etwa einen Homosexuellen ob seiner amourösen Neigungen ablehnt, vertritt keine bloß sperrige Meinung, die der gegenteiligen, dass Homosexualität etwas völlig Normales ist, auch nur irgendwie symmetrisch wäre. Hier gibt es keinerlei Pardon, keine faulen Kompromisse: manch emanzipatorische Errungenschaft ist schlicht nicht politisierbar, darf kein Teil der Verhandlungsmasse sein.
Das Ende der Debatte
All das bedeutet selbstverständlich nicht, dass die Menschenfeinde ihrerseits keine Menschenrechte hätten. Dass die Würde unantastbar ist, gilt auch für AfD-, und IS-Mitglieder. Mit deren Haltungen aber muss ich, ja darf ich mich nicht abfinden, auch wenn ich mir über die Art und Weise, wie ich sie am besten bekämpfen kann, nicht unbedingt im Klaren bin. Ab einem gewissen Punkt aber, ist die Debatte zu Ende.
Wer bestimmte Haltungen in seinem Salon (wenn auch zähneknirschend) duldet, trägt dazu bei, dass sie salonfähig werden. Und wenn diese dann irgendwann wieder mehrheitsfähig sind, ist es mit dem konfliktualen Konsens, mit produktivem Streit und einer gesunden, weil begrenzten Toleranz, ohnehin vorbei. Bevor es soweit kommt, muss man sich und anderen klarmachen, dass bestimmte Ansichten nicht gehen.
Im Hinblick auf liberalistische Positionen und solche eines „anständigen“ Konservatismus (nicht aber auf jene, die sich dem Rechtspopulismus anbiedern) muss der linke Demokrat tatsächlich ein großer Schmerzkünstler sein. Für das Lager der gemäßigten Rechten gilt im Hinblick auf ihre linken Gegner umgekehrt das Gleiche. Paul und mich trennt so einiges: unsere Schmerzgrenzen aber überschneiden sich bisweilen.