Kaum etwas erregt die Gemüter derzeit so sehr wie die Islamdebatte. Während Rechtspopulisten Hass gegen Muslime schüren, verharmlosen vor allem Linke die Gefahr des Islamismus. Dabei wäre eine vernünftige Auseinandersetzung abseits der üblichen Reflexe möglich.
Dass der Islam immer wieder im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit steht, liegt nicht nur an seiner tatsächlichen Bedeutung in Politik und Gesellschaft. Er ist in den letzten Jahren zunehmend zur Projektionsfläche geworden, auf der verschiedene Weltanschauungen und ideologische Strömungen um die Deutungshoheit kämpfen. Dieser Kampf wird nur selten zivilisiert und differenziert geführt. Wie bei anderen Reizthemen auch melden sich nämlich ausgerechnet diejenigen am lautesten zu Wort, die zu einer sachlichen Debatte nur wenig beizutragen haben. Statt nachdenklicher Abwägung dominiert bei ihnen der empörte Reflex.
Doch wie ist eine vernünftige Kritik am Islam abseits rassistischer Ressentiments und Muslimenfeindlichkeit möglich, ohne zugleich die Augen vor religiös begründetem Antisemitismus, Frauenfeindlichkeit, Homophobie und Radikalisierung zu verschließen? Wie sieht eine Islamkritik aus, die der Komplexität des Themas gerecht wird?
Missbrauch oder Gebrauch der Religion?
Nicht nur von Muslimen selbst, sondern auch in linken Kreisen wurde es vernachlässigt, offen über tatsächlich bestehende Gefahren des Islamismus und über Probleme innerhalb der muslimischen Communities zu reden. Der Zusammenhang zum Islam wird dabei regelmäßig verharmlost oder ganz verschwiegen. So war nach Terroranschlägen und anderen Gewaltverbrechen oft zu hören, der Islamismus habe „nichts mit dem Islam zu tun“, sondern es handele sich bloß um einen „Missbrauch der Religion“.
Ein solcher „Missbrauch“ setzt voraus, dass der Koran als grundlegende Hauptquelle des Islams bloß friedliche Passagen enthält. Mit einem unvoreingenommenen Blick in die islamische Offenbarungsschrift wird jedoch schnell deutlich, dass auch gewaltvolle Anweisungen und Regeln einen großen Raum einnehmen. Die Gewalt ist leider ein wesentlicher Bestandteil des Islams, der nicht missbraucht, sondern gebraucht werden kann – genauso wie in anderen Religionen auch.
Ganz zurecht wird in diesem Zusammenhang immer wieder betont, dass der Koran verschiedene und zum Teil widersprüchliche Botschaften beinhaltet, die nur durch ihre Entstehungsgeschichte und im Kontext ihrer Zeit verstanden werden können. Doch statt den Wahrheitsanspruch und die politische Macht des „heiligen Textes“ grundsätzlich infrage zu stellen, werden häufig nur die friedlichen Passagen in den Vordergrund gestellt. Textstellen, die zu Gewalt, Diskriminierung und Hass gegen Anders- und Ungläubige aufrufen, werden dagegen geleugnet oder umgedeutet. Zwar ist eine solche selektive Lesart weitaus sympathischer als die kompromisslose Umsetzung islamischer Moralvorschriften. Eine historisch-kritische Auseinandersetzung, die zu einem aufgeklärten Umgang mit dem Koran und zur Diskursfähigkeit der Muslime beiträgt, sieht aber anders aus.
Religionskritik – Ein vergessenes Erbe der Linken
Auch aus einem anderen Grund ist die Zurückhaltung vieler Linken gegenüber dem Islam problematisch: Der zweifellos wohlwollende Reflex, sich schützend vor Muslime und ihre Glaubensüberzeugungen zu stellen, kann selbst in Respektlosigkeit und Paternalismus umschlagen. Denn wer Muslimen keine Kritik in Religionsfragen zutraut, entmündigt sie und behandelt sie damit wie kleine Kinder. Der Islamkritiker und Politologe Hamed Abdel-Samad bezeichnete dieses Verhalten treffend als „Rassismus der gesenkten Erwartungshaltung“.
Dabei hat die Kritik an der Religion eine lange Tradition innerhalb der Linken. Schon Karl Marx sprach vom „Opium des Volkes“ und betrachtete Religionskritik als Voraussetzung aller Kritik. Den Islam schloss er davon nicht aus. Heutige Linke, die selten ein Problem mit der Kritik am Christentum haben, sollten das auch nicht tun. Denn wer – mit Marx gesprochen – alle Verhältnisse umwerfen möchte, „in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“, muss sich konsequenterweise gegen alle freiheits- und fortschrittsfeindlichen Ideologien und Vorstellungen positionieren. Eine entsprechende humanistische Islamkritik kann dabei durchaus hart gegenüber religiösen Überzeugungen sein, ohne damit Menschen abzuwerten oder auszuschließen.
Liberale Muslime und Ex-Muslime werden im Stich gelassen
Dass eine menschenfreundliche Islamkritik möglich ist, zeigen in besonderer Weise liberale Muslime und Ex-Muslime wie Seyran Ateş, Ahmad Mansour, Mouhanad Khorchide, Hamed Abdel-Samad, Mina Ahadi und Amed Sherwan. Da sie wegen ihren Aufklärungs- und Reformbestrebungen von islamischen Fundamentalisten angefeindet und bedroht werden, stehen einige von ihnen unter ständigem Polizei- und Personenschutz.
Ausgerechnet von Linken, also ihren natürlichen Verbündeten, werden sie bei ihrem Kampf für Menschenrechte im Stich gelassen. Eine erwähnenswerte Solidaritätsbekundung mit diesen mutigen Vorkämpferinnen und Vorkämpfern fehlt bislang – ebenso wie die Unterstützung progressiver und freiheitlicher Bestrebungen in islamisch geprägten Ländern. Die Konsequenzen dieses intellektuellen und menschlichen Verrats sind fatal: Denn die öffentliche Kritik am Islam wurde somit den rechten Demagogen überlassen, die mit plumpen Stammtischparolen von dem dadurch entstandenen Vakuum profitieren konnten.
Rechtspopulisten und Islamisten sind Brüder und Schwestern im Geiste
Den Rechtspopulisten geht es keineswegs um die Umsetzung der Menschenrechte oder die Aufhebung real existierender Missstände. Sie streben den Ausschluss einer ganzen Religionsgemeinschaft und ihrer Anhänger an. Die Erfahrung lehrt, dass sie kaum eine Gelegenheit auslassen, um unter dem Deckmantel der Islamkritik Vorurteile und Hass gegen Muslime zu schüren. Mit der AfD hat es eine Partei in Bundestag geschafft, die darin geradezu ihre Existenzgrundlage gefunden hat. Egal, welche Debatte auf der Tagesordnung steht, egal, ob es sich dabei um Fragen der Flüchtlings-, Sozial- oder Kulturpolitik handelt – sie bringt sie zwanghaft in Zusammenhang mit dem fundamentalistischen Islam.
Was dabei häufig übersehen wird: Die Rechtspopulisten der AfD und islamische Fundamentalisten sind sich viel ähnlicher, als gemeinhin angenommen. Beide hängen veralteten Geschlechterrollen nach, wettern gegen die Gleichberechtigung von Homosexuellen, lehnen die universelle Geltung der Menschenrechte ab und leugnen die Erkenntnisse der Wissenschaft, etwa zum Klimawandel oder zur Evolution. Sie sehnen sich beide nach einem autoritären Gesellschaftsmodell und stehen der liberalen Demokratie als Ausdruck „westlicher Dekadenz“ feindlich gegenüber. Kurz: Rechtspopulisten und fanatische Muslime wollen beide das Rad der Geschichte in voraufgeklärte Zeiten zurückdrehen.
Die Gemeinsamkeiten bestehen nicht ohne Grund. Die AfD ist nämlich nicht nur eine politische Heimat für völkische Nationalisten, sondern auch für fundamentalistische Christen, die das sogenannte „christliche Abendland“ als Bollwerk vor einer imaginierten „Islamisierung“ bewahren wollen. Das Ziel der selbsternannten „Abendlandretter“ ist nicht die Verteidigung der offenen Gesellschaft oder die Trennung von Staat und Religion. Die dahinterstehende Motivation ist die politische Umsetzung eines reaktionären Kulturchauvinismus, der die eine irrationale Weltanschauung über die andere erhebt. Muslime werden vor diesem Hintergrund als kulturfremde Eindringlinge angesehen, die die vermeintliche Homogenität des „eigenen Volkes“ zersetzen – eine Denkweise, die in der Tradition des klassischen Faschismus steht.
Keine Macht dem identitären Denken
Insgesamt krankt die Islamdebatte in Deutschland an einer ständigen Betonung von Gruppenidentitäten. Nicht der einzelne Mensch steht im Mittelpunkt der Diskussion, sondern das Kollektiv, dem er zugeschrieben wird. Wurden Migranten aus der Türkei oder dem arabischen Raum früher noch als „Türken“ oder „Araber“ bezeichnet, werden sie heute pauschal als „Muslime“ angesehen und somit auf eine religiöse Identität reduziert. Dabei werden wichtige Unterschiede unzulässig ausgeblendet: Viele dieser Menschen sind tatsächlich gläubige Muslime, die den Islam jedoch unterschiedlich und individuell praktizieren. Andere stehen der Religion indifferent oder sogar ablehnend gegenüber. Nur die wenigsten wollen von den mehrheitlich konservativen Islamverbänden repräsentiert werden, die sich so gerne als Sprachrohr aller Muslime ausgeben.
Eine sachliche Auseinandersetzung erfordert die Wahrnehmung der großen Vielfalt muslimischen Lebens in Deutschland. Alle Menschen sind kulturelle Mischlinge, die in ihren Vorstellungen, Wünschen und – zum Teil widersprüchlichen – Selbstbildern durch zahllose Einflüsse geprägt werden. Eine transkulturelle Haltung, die dieser sozialen Realität gerecht wird, wäre eine Voraussetzung für einen differenzierten Diskurs.