Der Begriff der „Nachhaltigkeit“ hat Hochkonjunktur. Doch ein Blick in seine Geschichte zeigt, dass der Begriff seine ursprüngliche Bedeutung längst verloren hat: aus Nachhaltigkeit wurde „Nachhaltige Entwicklung“ – aus der Wachstumskritik der Umweltbewegung wurde wirtschaftsliberaler Wachstumsglaube.

Nachhaltigkeit im Waldbau

Ebenso wie die gesellschaftlichen Grundwerte der Gleichheit oder der Gerechtigkeit hat auch die Nachhaltigkeit einen bestechend einfachen Grundgedanken. Als das Prinzip zum ersten Mal formuliert wurde, besagte es im Wesentlichen, man solle nicht mehr abholzen, als nachwachsen könne. Entwickelt wurde diese heute als selbstverständlich daherkommende Einsicht als Reaktion auf die im 18. Jahrhundert prognostizierte europaweite Ressourcenkrise. Ein preußischer Forstwissenschaftler namens Hans Carlowitz schlug damals Alarm: Wenn die Abholzung in ihrer aktuellen Radikalität fortgesetzt werde, könne die beständige und kontinuierliche, ja die nachhaltige Nutzung des Waldes nicht garantiert werden.

Lange Zeit war der Begriff der Nachhaltigkeit als Fachbegriff der Forstwissenschaft weitestgehend unbekannt. Es dauert bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts, ehe die Nachhaltigkeit im Mainstream der Wirtschaftswissenschaften ankommt. Mittlerweile in den englischen Begriff sustainable (wörtlich: aufrechterhaltbar) übersetzt, legt der britische Ökonom John R. Hicks im Jahr 1939 eine neue Definition des volkswirtschaftlichen Einkommens vor. Entscheidend für die Berechnung eines Kapitalstands, so Hicks, sei nicht die zur Verfügung stehende Gütermenge, sondern die Gütermenge, die verbraucht werden kann, ohne künftige Konsummöglichkeiten einzuschränken.

Der stumme Frühling und die Geburt der Umweltbewegung

Eine gesellschaftsweite Resonanz auf diese ökonomische Neuerung bleibt vorerst weitestgehend aus. Das Nachhaltigkeitskonzept bleibt bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts ein absolutes Nischenthema. Der große Karrieresprung gelingt dem Thema erst mit dem Erscheinen von Rachel Carsons Sachbuch Silent Spring im Jahr 1962, das allgemeinhin als Geburtsstunde der Umweltbewegung ausgemacht wird. In ihren Untersuchungen macht Carson auf Umweltvergiftungen durch Pestizide aufmerksam und löst damit schlagartig eine Welle ökologischen Engagements aus.

Das in Carsons Titel angedeutete apokalyptische Szenario einer Welt ohne Vogelgezwitscher, also eines stummen Frühlings, stimuliert die in den 1960er Jahren aufkommenden Protestbewegungen, die im Earth Day im Jahr 1970 ihren Höhepunkt finden: Allein in den USA gehen an diesem Tag 20 Millionen Menschen auf die Straße und demonstrieren gegen die Vergiftung und Zerstörung des Planeten. Die Einsicht, dass der Mensch die Umwelt und damit die Grundlage seiner eigenen Existenz tatsächlich zerstören könnte, wird in den 60er Jahren erstmals salonfähig.

Neben Umweltproblemen, wie die von Carson beschriebene Verseuchung durch Pestizide, gerät auch die Frage nach der Rohstoff- und Energienutzung in den Fokus. Das Krisenszenario einer Übernutzung, das im 18. Jahrhundert zur Innovation im Waldbau geführt hatte, entflieht so dem kontextuellen Korsett der Forstwissenschaften und nimmt in den 70er Jahren eine sehr viel umfassendere Form an. Die Idee der Nachhaltigkeit scheint nicht mehr aufzuhalten zu sein.

Gegen den Wachstumsimperativ des Industrialismus

Die 1972 erschienene Studie zur Zukunft der Weltwirtschaft The Limits of Growth rechnet eine lineare Extrapolation des momentanen globalen Ressourcenverbrauchs vor und kommt zu einem alarmierendem Schluss: die meisten Ressourcen würden bei gegenwärtiger Zunahme der Weltbevölkerung, der Industrialisierung, der Umweltverschmutzung, der Nahrungsmittelproduktion und der Ausbeutung von natürlichen Rohstoffen innerhalb von 100 Jahren verbraucht sein. Der Bericht resümiert, dass ein radikaler Wandel der sozioökonomischen Strukturen erforderlich wäre, sollte der Kollaps noch verhindert werden. Zu noch drastischeren Prognosen kommt die acht Jahre jüngere, US-amerikanische Studie Global 2000 (1980), die das ökologische Katastrophenszenario bereits zur Jahrtausendwende kommen sieht.

Als Reaktion auf diese Krisenszenarien erlebt das Konzept der Nachhaltigkeit einen Popularitätsschub. Die Idee einer eingeschränkten Ressourcennutzung, mittels welcher die Erhaltung des Bestands zu garantieren ist, erscheint Wissenschaft wie Öffentlichkeit als geeigneter Lösungsvorschlag. Nachhaltigkeit und die ihr zugrundeliegende Idee der Bewahrung stabilisiert sich so als eine der Wachstum- und Fortschrittslogik entgegenstehende Semantik. Denn als Ursache der Problematik wird in den 70er Jahren der Wachstumsimperativ des Industrialismus ausgemacht.

Die von Karl Marx bereits 1867 formulierte Einsicht, dass eine kapitalistische, sich von ihrer Rückbindung an menschliche Bedürfnisse entkoppelte Wirtschaftsweise im Widerspruch zu den endlichen Voraussetzungen der Produktion stehe, wird über 100 Jahre später wieder hervorgekramt. In dieser Zeit kreist die Frage daher um die Debatte, wie ein vom Wachstum abgekehrtes Wirtschafts- und Gesellschaftmodell aussehen könnte.

… und plötzlich heißt es „Nachhaltige Entwicklung“

Einen Bruch erlebt der Diskurs um Nachhaltigkeit mit dem Erscheinen der von der UN herausgegebenen World Conservation Strategy im Jahr 1980. Zwar hebt der Titel bereits programmatisch die Konservierung als Ziel hervor, doch ist hier erstmals von einer Nachhaltigen Entwicklung zu lesen. Der Erhalt ökologischer Systeme und der Schutz allen Lebens wird nun mit wirtschaftlich-gesellschaftlichem Fortschritt zusammengedacht. Diese Veränderung wird in der zweifelsohne einflussreichsten Schrift der Nachhaltigkeitspolitik des 20. Jahrhundert, dem Brundtland-Report (1987), fortgeführt. Dieses Dokument ist das Ergebnis einer 1983 eingesetzten „UN-Kommission für Umwelt und Entwicklung“.

Nachhaltigkeit wird nun nicht mehr als Gegenprogramm zu einer auf Wachstum getrimmten Wirtschaftsweise verstanden, stattdessen ist die Rede nun von „Nachhaltiger Entwicklung“ als Lösung für ökologische und soziale Missstände auf der Welt. Eine Rechtfertigung für diesen Wechsel ist die Verschiebung in der Ursachenanalyse. Wurde in den 70er-Jahren das Wachstum als Problemherd für das prognostizierte Ende der natürlichen Ressourcen betrachtet, identifiziert der Brundtland-Report globale Armut als zentrale Ursache für die ökologische Krise.

Von Armut geprägte Länder, so das entscheidende Argument des Brundtland-Reports, würden unkontrolliert natürliche Ressourcen benutzen und dadurch eine Zerstörung der Umwelt verursachen, beispielsweise durch Übernutzung der Meere und Abholzung der Tropenwälder. Diese Ursachenanalyse ist auch heute noch zu hören und lesen – beispielsweise in sonntäglichen Talkshows, wo mittels des Verweises auf fehlendes Umweltbewusstsein im globalen Süden gegen strengere Umweltauflagen (wie einem Tempolimit) argumentiert wird. Fraglich daran ist in erster Linie nicht die Aussage über ökologische Probleme in ärmeren Teilen der Welt, sondern die darin oftmals implizit kommunizierte Schuldfreisprechung des globalen Nordens. In den Worten des Soziologen Niklas Luhmann: „Die Feststellung von Ursachen, von Verantwortung und Schuld dient immer auch der Ausgrenzung von Nichtursachen, der Feststellung von Nichtverantwortung und von Unschuld.“

Wachstum als Lösung, nicht als Problem

Im Brundtland-Report wird ganz im wirtschaftsliberalen Zeitgeist der 80er Jahre festgestellt, das globale Armutsgefälle sei am einfachsten und effizientesten durch wirtschaftliches Wachstum zu bekämpfen. Wachstum ist somit nicht mehr Teil des Problems, sondern wird in Form einer Lösungsstrategie durch die Hintertüre wieder ins Geschäft gebracht. Das Leitbild Nachhaltiger Entwicklung wird durch den Brundtland-Report zu einem institutionell anerkannten Modernisierungskonzept, das dauerhaftem Wirtschaftswachstum ein Qualitätssiegel verleiht.

Das Oxymoron der Nachhaltigen Entwicklung löst damit historisch den wachstumskritischen Begriff der Nachhaltigkeit ab. Unkontrolliertes Wachstum, so die Vorstellung, müsse in nachhaltiges Wachstum transformiert werden; der Grundkonflikt zwischen kapitalistischer Ökonomie und endlichen Ressourcen sei prinzipiell versöhnbar. Nachhaltige Entwicklung als ökologisch modernisierte Version des auf Wachstum ausgelegten Modells stellt seit nunmehr über 30 Jahren die Lösung globaler Umweltprobleme dar. Als Mittel zur Erreichung des Ziels setzt man in erster Linie auf Effizienzoptimierung und technologischen Fortschritt.

Im wirtschaftswissenschaftlichen Mainstream angekommen

Eine dem Wachstumsprinzip und damit dem Grundgedanken der aktuellen Wirtschaftsordnung entgegensetzende Idee ist wirtschaftlich schlecht verwertbar – oder im Jargon Niklas Luhmanns: sie löst zu wenig Resonanz aus. Mit der Veränderung des Konzepts hin zur Nachhaltigen Entwicklung wurde der wachstumskritische Tenor jedoch verdrängt. Dieser Bruch ermöglichte eine Integration des Nachhaltigkeitsdiskurses in Mainstream-Debatten der gesellschaftlichen und politischen Öffentlichkeit.

Die Wirtschaft hat den Nachhaltigkeitsmarkt in der Zwischenzeit längst erobert. Man findet heute kaum ein globales Unternehmen mehr, das sich nicht die grüne Revolution auf die Kappe geschrieben hat und einen Zero Water Footprint, eine 100% Recyclingquote oder CO2-Neutralität als höchstes Ziel ausgegeben hat. Von mangelnder Resonanz kann heute also nicht mehr die Rede sein. Allein: Mit dem Grundgedanken der Nachhaltigkeit hat die wirtschaftlich verwertbare Version Nachhaltiger Entwicklung nicht mehr viel gemein.