Der Menschheit geht es so gut wie nie zuvor. Das belegen zahlreiche Statistiken zu Gewalt, Armut, Gesundheit und Bildung. Aber das auszusprechen, fühlt sich falsch an. Wieso eigentlich?
Klimakatastrophe und Artensterben, Rechtspopulismus und Migrationskrise: Wir leben in wahrlich finsteren Zeiten. Und es geht stetig bergab. Also, gefühlt jedenfalls. Gefühlt war es früher sicherer, friedlicher und gerechter. Gefühlt nehmen Armut, Ungerechtigkeit und Gewalt weltweit zu. Und dieses Gefühl wird tagtäglich bestätigt: in den Nachrichten, in unseren Twitter-Timelines, in der Bild-Zeitung, in den Reden der Politiker, in Gesprächen mit so ziemlich jedem über 30.
Die Fakten aber erzählen eine gänzlich andere Geschichte als unser Bauchgefühl: Es geht uns so gut wie nie zuvor. Und mit „wir“ ist nicht etwa nur eine privilegierte Minderheit – der wohlhabende Westen – gemeint. Nein, der Menschheit geht es besser denn je. Wir leben insgesamt gesünder, werden immer älter und wohlhabender; unsere Welt wird friedlicher und demokratischer. Und das lässt sich auch belegen.
Weniger Armut, Krankheit und Gewalt – mehr Freiheit, Recht und Bildung
Der kürzlich verstorbene schwedische Wissenschaftler und Autor Hans Rosling („Factfulness“ 2018) hatte es sich zur Lebensaufgabe gemacht, mit Zahlen und Fakten zu beweisen, dass die Welt weitaus besser ist als ihr Ruf. Die von ihm gegründete „Gapminder-Stiftung“ will mit leicht verständlichen und interaktiv aufgearbeiteten Statistiken eine auf wissenschaftlichen Fakten basierende Sicht auf die Welt etablieren. Rosling klärt auf:
- Armut und Hunger nehmen ab: Innerhalb der vergangenen 20 Jahre hat sich der Anteil der Menschen, die in extremer Armut leben, weltweit mehr als halbiert: von 29 auf neun Prozent. Der Anteil der unterernährten Menschen lag 1970 bei 28 Prozent – 2017 waren es nur noch 15 Prozent.
- Die Lebenserwartung steigt: Betrug die durchschnittliche Lebenserwartung auf der Welt zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch rund 30 Jahre, so sind es heute 72 Jahre. Im Jahr 1990 starben mehr als zwölf Millionen Kinder, bevor sie das fünfte Lebensjahr erreichten – im Jahr 2015 waren es nur noch die Hälfte.
- Bildung und Geschlechtergleichheit nehmen zu: Der Anteil der Erwachsenen mit Grundfertigkeiten im Lesen und Schreiben ist seit dem Jahr 1800 von zehn auf 86 Prozent gestiegen. Und mit 90 Prozent besuchen heute fast genauso viele Mädchen im Grundschulalter eine Schule wie Jungen (92 Prozent).
- Freiheit und Frieden nehmen zu: Der Anteil der Menschen, die in einer Demokratie leben lag im Jahr 1816 bei bloß einem Prozent – 2015 waren es schon 56 Prozent. Während im 20. Jahrhundert im Schnitt fünf Prozent aller Verstorbenen durch Gewalt umgekommen waren, sind es heute nur noch etwa ein Prozent.
- Wir leben gesünder und sicherer: Die Zahl der Todesopfer von Naturkatastrophen hat sich in den vergangenen 100 Jahren halbiert. Die HIV-Infektionen nehmen weltweit ab (549 Millionen neue Infektionen im Jahr 1996; 241 neue Infektionen im Jahr 2016), während die Impfraten weiter steigen (von 22 Prozent im Jahr 1980 auf 88 Prozent im Jahr 2016).
Fortschritt existiert – aber niemand will dran glauben
Die Welt ist also besser, als wir gemeinhin annehmen. Auch das konnte Hans Rosling nachweisen: Er entwickelte den sogenannten „Ignoranztest“, einen Fragebogen mit 13 Multiple-Choice-Fragen zum gesellschaftlichen Fortschritt – zu Armut, Impfraten oder Alphabetisierung. Insgesamt rund 12.000 Personen aus 14 Ländern, darunter Wirtschaftsführer und Nobelpreisträger, ließ er diesen Fragebogen ausfüllen.
Das Ergebnis: Fast alle Befragten schätzten die Welt weitaus bedrohlicher, gewalttätiger und hoffnungsloser ein, als sie in Wirklichkeit ist. Und das nicht bloß aus Unwissen. Weil die Testpersonen im Zweifelsfall stets auf die pessimistischste Antwort tippten, lagen die Testergebnisse sogar deutlich unter dem Zufallswert. Besonders schlecht schnitten Akademiker ab. Rosling fasste seine Ergebnisse am liebsten wie folgt zusammen: Würde er denselben Test mit Schimpansen im Zoo durchführen, sie würden – allein durch Willkür und Zufall – eine bessere Trefferquote erzielen als Menschen.
Woher das verzerrte Weltbild?
Der moderne Mensch neigt zu einem pessimistisch verzerrten Weltbild. Ein Teil davon erklärt sich wohl aus unserem Hang, die Vergangenheit zu verklären – Positives in Erinnerung zu behalten und Negatives zu verdrängen. Hinzu kommt: Je besser es uns geht, desto mehr haben wir zu verlieren. Je wohlständiger eine Gesellschaft, desto größer die Angst vor Verlust und Abstieg – das färbt die Wahrnehmung und lässt die Welt bedrohlicher erscheinen.
Auch die Medien und ihre Negativitätsselektion spielen eine große Rolle: Gewalt, Krisen, Skandale und Katastrophen setzen sich aufmerksamkeitsökonomisch einfach besser durch. Dagegen liest sich nichts so langatmig (und verkauft sich dementsprechend schlecht) wie ein Artikel über die langwierigen, aber positiven Prozesse des gesellschaftlichen Fortschritts, die dann auch noch mit Zahlen und Tabellen belegt werden müssen. Dabei sind zunehmende Pressefreiheit und besserer Zugang zu Medien selbst schon wichtige gesellschaftliche Fortschritte. Paradoxerweise sind es jene Fortschritte, die dazu führen, dass immer mehr Menschen an einen Rückschritt glauben.
Der berühmte Harvard-Psychologe Steven Pinker („Aufklärung jetzt“ 2018), der ein sehr ähnliches Projekt verfolgt wie Rosling (gegen die „Negativitätsverzerrung“ der öffentlichen Wahrnehmung – mit Wissenschaft und Humanismus), sieht den Grund für unser dramatisches Weltbild auch bei den Intellektuellen. Besonders die Sozial- und Geisteswissenschaftler würden, qua Berufsstand, zum Kulturpessimismus neigen und eine Art a priori Skepsis gegen Regierungen, Märkte, Naturwissenschaften und Technologien hegen – ganz im Geiste so wirkmächtiger pessimistischer Denker wie Nietzsche, Schopenhauer, Heidegger oder Adorno.
Mit Fakten gegen die Angst
Zu behaupten, diese Welt sei die beste, die wir je hatten, wird folglich immer auf Empörung und Gegenwehr stoßen (man darf auf die Kommentare zu diesem Artikel gespannt sein). Eine Verbesserung der Welt zu behaupten, während es doch zweifelsohne noch immer so viel Leid und Ungerechtigkeit auf dieser Welt gibt, wirkt unanständig. Die Rolle des Mahners und Kritikers erscheint uns dagegen moralischer, integrer und vertrauenswürdiger. Doch wer auf die Fortschritte der Menschheit verweist, muss bestehende Probleme nicht leugnen: Die Liste der bedrohten Tierarten wächst, die Zahl der Tiere in Massentierhaltung auch. Das Polareis schmilzt, der Meeresspiegel steigt und aus keiner der oben genannten Fortschritts-Statistik lässt sich ableiten, dass der Klimawandel nicht in einer globalen Katastrophe für uns alle enden wird.
Den gesellschaftlichen Fortschritt anzuerkennen, bleibt dennoch wichtig. Denn so stärken wir unsere Zuversicht in die einzigartige Fähigkeit des Menschen, Probleme zu lösen. Wir erinnern uns daran, dass die Wissenschaft noch immer der beste Problemlöser ist, den wir haben. Und, was vielleicht noch wichtiger ist: Wer aufhört, die Welt schlechter zu denken als sie ist, entzieht den Apokalyptikern und Schwarzmalern dieser Welt die Möglichkeit, mit irrationaler Angst und falschem Pessimismus Politik zu machen, Wahlen zu gewinnen und Mauern zu bauen.