„Eine Welt ohne Müll“ – Was für die meisten von uns nach einer utopischen Zukunftsvision klingt, ist das erklärte Ziel des Chemikers Michael Braungart. Er fordert ein radikales Umdenken in der Ökologiebewegung. Statt Abfall zu vermeiden und zu verringern, setzt er auf „intelligente Verschwendung“.
Michael Braungart ist kein Mann für halbe Sachen. Bereits in jungen Jahren entdeckte der 1958 geborene Querkopf seine Leidenschaft für den Umweltschutz und wurde Mitglied bei den Grünen und rebellischer Greenpeace-Aktivist. In den 80ern kletterte er auf die Schornsteine Schweizer Chemiekonzerne oder verstopfte Abwasserrohre, die giftige Stoffe aus der Industrie ausließen. Doch irgendwann waren diese Formen des Protests für Braungart nicht mehr zufriedenstellend. Er wollte echte Lösungen finden – die Umweltprobleme an der Wurzel packen, statt sich bloß an den Symptomen abzuarbeiten.
Heute forscht und lehrt Michael Braungart als Professor für Chemie und Verfahrenstechnik an der Leuphana Universität in Lüneburg. Zwar beteiligt er sich als renommierter Wissenschaftler nicht mehr an waghalsigen Guerilla-Aktionen, doch an der Radikalität seines Denkens und seinem Willen zur Weltverbesserung hat sich nichts geändert. Gemeinsam mit dem US-amerikanischen Architekten William McDonough entwickelte er ein Konzept, das in bestimmten Kreisen sogar als die nächste „ökologisch-industrielle Revolution“ gehandelt wird: „Cradle to Cradle“, kurz „C2C“.
Ein endloser Kreislauf ohne Abfall
Anders als klassische Ökologiekonzepte zielt C2C nicht auf das Ausbessern bestehender Rahmenbedingungen, sondern will völlig neue Wege einschlagen: Produkte werden neu erfunden und von Anfang an so designt, dass die gebrauchten Materialien immer wieder als Rohstoff verwendet oder gefahrlos kompostiert werden können. Das Credo lautet daher nicht „von der Wiege zur Bahre“, sondern „von der Wiege zur Wiege“. Alle verbrauchten Gegenstände sollen in endlose technische oder biologische Kreisläufe zurückgeführt werden. Braungarts Ziel ist dabei nichts weniger als eine Welt ohne Abfall.
„Weniger schlecht ist nicht gut“
Schon jetzt gibt es biologisch abbaubare T-Shirts, essbare Flugzeugsitze, sortenreine Kunststoffe und ganze Gebäude, die nach C2C-Kriterien geplant und gebaut werden. Ginge es nach Braungart, würde man technische Geräte künftig nicht mehr kaufen, sondern bloß ausleihen und die damit verbundenen Dienstleistungen erwerben. Verkauft werden zum Beispiel nicht Waschmaschinen, sondern 3.000 Waschgänge. Der Hersteller erhält das Gerät nach einer bestimmten Nutzungsdauer zurück und kann die verwendeten Materialien wieder für ein neues Produkt verwerten.
Der Mensch als potenzieller Nützling
Hinter Cradle to Cradle steht ein optimistisches Technik- und Menschenbild: Während der Mensch im traditionellen Ökologismus als Schädling wahrgenommen wird, der die Natur mit seinem Konsum zerstört, betrachtet Braungart den Menschen als potenziellen Nützling. Denn durch „intelligente Verschwendung“ sei es möglich, nicht bloß den eigenen negativen Fußabdruck zu minimieren, sondern die Welt mit einem positiven Fußabdruck zu hinterlassen. C2C fordert daher keinen Verzicht und keine Einschränkungen in unserem alltäglichen Leben, sondern erlaubt einen ökoeffektiven Konsum ohne schlechtes Gewissen.
In seinen Vorträgen führt Braungart hierzu gerne das Beispiel eines blühenden Kirschbaums an. Dessen Blütenpracht besteht aus mehr als 100.000 einzelnen Sprossen. Obwohl nur weniger als jede hundertste Blüte zu einer Kirsche heranwächst, entsteht kein Abfall bei diesem energieaufwendigen Prozess. Im Gegenteil: Blütenblätter, die zu Boden fallen, werden zu Nährstoffen für Tiere und andere Pflanzen – intelligente Verschwendung im besten Sinne also, von der wir Menschen lernen können.
Prominente Unterstützung für eine müllfreie Welt
Von seiner Vision einer müllfreien Welt konnte Michael Braungart bereits einige prominente Unterstützer überzeugen. So spendete der Hollywood-Regisseur Steven Spielberg zwei Millionen Dollar und kündigte an, einen Dokumentarfilm über Braungarts Arbeit zu drehen. Der Schauspieler Brad Pitt ließ im Rahmen eines Hilfsprojekts mehrere C2C-Häuser errichten und bezeichnete Braungarts Buch über Cradle to Cradle als eines der drei wichtigsten Bücher, die er gelesen habe. Für das aktuellste schrieb der ehemalige US-Präsident Bill Clinton das Vorwort.
Auch große Unternehmen – darunter Philips, Nike, Puma und C&A – finden zunehmend Gefallen an Braungarts Konzept und experimentieren bereits mit C2C-Produkten. In Taiwan will man sogar einen Masterplan ausarbeiten, um die gesamte Wirtschaft der Insel nach Cradle to Cradle auszurichten.
Alles nur Wunschdenken?
Doch wo Idealisten ein ambitioniertes Ziel verfolgen, da sind auch Zweifler nicht weit. Einer der prominentesten Kritiker von C2C ist Friedrich Schmidt-Bleek, langjähriger Leiter des Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie. Bei Braungart handele es sich zwar um einen der „ideenreichsten Umweltchemiker der Welt“, so Schmidt-Bleek. Dass Cradle to Cradle aber in großem Maßstab umsetzbar wäre, ohne selbst der Umwelt mit der Beibehaltung der Verschwendungslogik zu schaden, hält er für ausgeschlossen.
Braungart setzt dagegen auf einen umfassenden Wandel im Denken. Man müsse aufhören, das „Falsche perfekt und damit perfekt falsch“ zu machen. Die rasant voranschreitende Zerstörung der Natur erfordere eine schnelle Umsetzung echter Innovationen, statt kosmetischer Scheinlösungen. Ob das gelingen wird? Braungart zeigt sich optimistisch: Es sei nicht unwahrscheinlich, dass die Welt bis 2040 nach Cradle to Cradle organisiert sein wird.