Was Sartre, Camus und de Beauvoir über Freiheit, Verantwortung, Unterdrückung und Absurdität zu sagen haben, ist relevanter denn je. Warum die Zeit reif ist für ein Comeback des Existenzialismus.

Mitte des 20. Jahrhunderts eroberte eine philosophische Strömung Europa im Sturm. Der Existenzialismus prägte eine ganze Generation von Denkern und wurde zur Lebenseinstellung vieler junger Menschen in der Nachkriegszeit. Die Hauptvertreter dieser Philosophie der Freiheit – Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir und Albert Camus – gelten längst als Klassiker. Sie begegnen uns heute in den Vorlesungsverzeichnissen von Universitäten oder auf eingerahmten schwarz-weiß-Fotografien in Berliner Altbauwohnungen; ihre gesellschaftspolitische Relevanz scheinen sie aber verloren zu haben. Doch auch fast 40 Jahre nach Sartres Tod kann der Existenzialismus mehr sein als ein verstaubtes Relikt der Geistesgeschichte. Er kann auch im Jahre 2019 noch Orientierung geben.

1. Der Existenzialismus ist ein Plädoyer für mehr politisches Engagement

Jean-Paul Sartre entwickelte seine Philosophie zur Zeit des Siegeszuges des Faschismus in Europa. Er erlebte die Machtübernahme Hitlers während eines Auslandsstudiums in Berlin, geriet 1940 für ein Jahr in Kriegsgefangenschaft der Nazis und schrieb im besetzten Paris an seinem Hauptwerk „Das Sein und das Nichts“. Es ist kein Zufall, dass gerade unter dem Eindruck von Unterdrückung und Tyrannei eine Philosophie entstand, die die menschliche Freiheit und moralische Verantwortung über alles stellt. Genauso wenig ist es ein Zufall, dass diese Philosophie in einer postfaschistischen Welt auf derart großes Interesse stieß. Denn der Existenzialismus stand für eine Ideologie der Neuorientierung nach den Schrecken des zweiten Weltkrieges.

Sartres Philosophie lehnt jede tradierte Anthropologie ab, die zu bestimmen versucht, was der Mensch seinem Wesen nach ist: Der Mensch ist weder das Ebenbild eines Schöpfergottes, noch ein biologisch determiniertes Tier oder ein Vernunftwesen. „Die Existenz geht der Essenz voraus“, so lautet Sartres berühmtes Credo. Der Mensch ist allein das, wozu er sich selbst macht. Sartre will seinen Existenzialismus als einen Humanismus verstanden wissen. Er fordert uns auf, Verantwortung für uns und unser Handeln zu übernehmen und ermahnt uns, uns nicht mit den vorgegebenen „Sinnangeboten“ – ob die unserer Eltern, der Kirche oder der Regierung – zu begnügen. Der Existenzialismus ist ein eindringliches Plädoyer für politisches Engagement und gegen fatalistische Politikverdrossenheit. In den Zeiten eines erstarkenden Populismus und einer Rückkehr des Nationalismus in der Weltpolitik ist die emanzipatorische Kraft des Existenzialismus wieder relevanter denn je. Von Sartre, de Beauvoir und Camus können wir lernen, wie wichtig die Verteidigung der Freiheit ist – und zwar nicht bloß der eigenen.

2. Sartres Vision der Freiheit gilt heute mehr denn je

Wir sind zur Freiheit verurteilt. Mit der Geburt werden wir ins Leben geworfen – ohne, dass jemals jemand nach unserem Einverständnis gefragt hätte. Und es liegt allein an uns, unserem Leben einen Entwurf, einen Sinn zu geben – als Autorinnen und Protagonistinnen unserer eigenen Lebensgeschichte. Dieses schon damals nicht unumstrittene Konzept von radikaler menschlicher Freiheit klingt heute realistischer, als noch zu Sartres Lebzeiten. Denn die Wahlmöglichkeiten eines selbstbestimmten Lebens – von der Berufswahl, dem Lebensstil, dem Beziehungsmodell bis zur Weltanschauung – sind heute freier und zahlreicher als noch in den 50er Jahren.

Doch schon Sartre wusste: Diese Freiheit kommt zu einem hohen Preis. Sie ist schmerzhaft und anstrengend. Sie konfrontiert uns mit einer tiefen, existenziellen Angst. Denn wenn allein wir selbst dafür verantwortlich sind, eine Antwort auf die Frage nach dem guten Leben zu finden, können wir niemand anderen beschuldigen, wenn wir scheitern. Stattdessen müssen wir immerzu in dem Bewusstsein handeln, dass wir auch anders leben könnten; dass das Leben, das wir führen, nur eines von unendlich vielen möglichen ist. Die Kapitulation vor dieser Omnipräsenz der freien Wahl nennt Sartre „Mauvaise foi“ (wörtlich übersetzt etwa „schlechter Glaube“). Gemeint ist eine Flucht in die Unaufrichtigkeit: Wir reden uns ein, das Leben, das wir leben, sei notwendig. Dass wir in jener Stadt, in jenem Beruf, mit jenem Partner in jener Wohnung leben, wollen wir dann als Vorbestimmung, als das Resultat unserer Erziehung und äußerer Umstände, oder schlicht als das einzig denkbare Leben verstanden wissen. So geben wir unsere Freiheit auf, um der quälenden Frage, wer wir sind und wer wir sein wollen, zu entkommen. Doch so beängstigend der Gebrauch unserer Freiheit auch sein mag: Für Sartre ist die Mauvaise foi keine Alternative. Ein authentisches Leben kann nur führen, wer sich seiner Selbstbestimmung bewusst ist.

3. Der Existenzialismus ist auch ein Feminismus

„Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.“ So schreibt es Simone de Beauvoir 1949 in „Das andere Geschlecht“ – ein Buch, das den Feminismus des 20. Jahrhunderts wie kaum ein anderes geprägt hat. Hier überträgt de Beauvoir das existenzialistische Menschenbild auf die Geschlechterfrage und stellt fest: Es gibt kein vorbestimmtes Wesen des Frau-Seins, keine wie auch immer geartete Essenz der Weiblichkeit. Stattdessen ist die Rolle der Frau eine, die ihr erst sozial zugeordnet wird. Das weibliche Geschlecht wird als „das Andere“ konstruiert, als das Passive und Objekthafte, und stets in der Abhängigkeit zum Mann definiert.

Bei Simone de Beauvoir findet sich bereits die Unterscheidung zwischen Sex und Gender – zwischen biologischem und sozialem Geschlecht – und damit der Ursprung der modernen Geschlechterdebatte und der Gender Studies. Wen der aktuelle Diskurs überfordert, der findet hier einen guten Einstieg. De Beauvoir beschreibt die hierarchischen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturen, in der die Unterdrückung der Frau begründet liegen. Doch so fest diese Strukturen auch sein mögen: Als Existenzialistin glaubt Simone de Beauvoir fest an die Möglichkeit, sich diesen Zwängen zu widersetzen.

4. Der Existenzialismus spendet Trost bei Sinnkrisen

Der Ausblick, den uns Albert Camus‘ Philosophie des Absurden gibt, klingt zunächst reichlich verstörend und deprimierend: Es gibt keinen Gott und keine ewigen Wahrheiten, keine Letztbegründung der Moral, keine kosmische Ordnung und kein Leben nach dem Tod. Unsere Existenz hat keinen Grund und keinen vorbestimmten Sinn. Wir Menschen sind bloß sinnsuchende Wesen in einem kalten und sinnleeren Universum – unser Dasein ist eine einzige Absurdität.

Trotz seiner düsteren Weltanschauung soll Camus ein (für Philosophen ja eher untypisch) überaus lebensbejahender Zeitgenosse gewesen sein. Camus meint, gerade weil wir nicht auf ein Leben nach dem Tod hoffen können, sollten wir uns ausgiebig den Freuden des Diesseits widmen. Gerade weil das Leben keinen vorgegeben Sinn kennt, liegt es an uns, ihm einen Sinn zu geben. Camus glaubte, gerade in der Anerkennung der Absurdität unseres Daseins und in der Einsicht in die Sinnlosigkeit alles Seienden können wir Würde, Trost und Glückseligkeit finden: Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.

5. Der Existenzialismus ist ästhetisch

Zugegeben: Es gibt intellektuell ansprechendere Argumente für ein Revival des Existenzialismus als dieses. Doch es ist ein wichtiges! Der Existenzialismus war mehr als eine akademische Bewegung. Er war eine Art zu leben. Und zwar eine äußerst ästhetische. Der Existenzialismus hat das philosophische Nachdenken sexy und glamourös gemacht. Wer an Existenzialismus denkt, der denkt an Paris der 50er Jahre, an schwarze Rollkragenpullover, gut gekleidete, rauchende Studentinnen in großstädtischen Straßencafés, an Whiskey und wilde Jazz-Konzerte. Alles Oberflächlichkeiten, mag sein. Aber so ein bisschen schöne Oberfläche würde den Intellektuellen unserer Tage ganz gut stehen.